Die Günstlinge der Unterwelt - 5
überzeugen konnte. Die einzige Alternative bestand darin, einfach einen Befehl zu erteilen. Manchmal mußte man die Menschen benutzen, um das zu tun, was getan werden mußte.
Verna ließ das Papier in die Schale fallen und setzte es mit einem Strom ihres Han in Brand. Sie sah zu, wie es verbrannte, nur um sicherzugehen, daß es vollkommen zu Asche wurde.
Dann schloß sie die Hand fest um das Reisebuch, ihr Reisebuch. Es tat gut, es zurückzuhaben. Natürlich gehörte es nicht wirklich ihr, es gehörte dem Palast. Aber sie hatte es so viele Jahre bei sich getragen, daß es so gut wie ihres war – wie ein alter, vertrauter Freund.
Der Gedanke kam ganz plötzlich – wo war das andere? Dieses Buch hatte ein Gegenstück. Wer hatte es?
Plötzlich betrachtete sie das Buch mit einem Gefühl der Beklommenheit. Sie hielt etwas in der Hand, was möglicherweise gefährlich war, und wieder einmal verriet ihr Annalina nicht die ganze Wahrheit. Durchaus möglich, daß sich das Gegenstück in der Hand einer Schwester der Finsternis befand. Vielleicht war dies Annalinas Art, ihr mitzuteilen, sie solle das Gegenstück suchen, und dabei würde sie eine Schwester der Finsternis finden. Aber wie? Sie konnte schlecht einfach in das Buch hineinschreiben: »Wer bist du, und wo steckst du?«
Verna küßte ihren Ringfinger, ihren Ring, dann erhob sie sich.
Behüte dies mit deinem Leben.
Reisen war gefährlich. Gelegentlich waren Schwestern gefangengenommen und umgebracht worden, von feindseligen, durch ihre eigene Magie geschützten Völkern. In solchen Fällen konnte nur ihr Dacra sie beschützen, eine messerähnliche Waffe mit der Fähigkeit, Leben augenblicklich auszulöschen, vorausgesetzt, man war schnell genug. Verna trug ihren immer noch im Ärmel. Und vor langer Zeit hatte Verna einen Beutel hinten in ihren Gürtel genäht, in dem sie das Reisebuch verstecken und sicher aufbewahren konnte.
Sie ließ das kleine Buch in den handschuhartigen Beutel gleiten und klopfte darauf. Es war ein gutes Gefühl, das Reisebuch wieder dort zu wissen.
Behüte es mit deinem Leben.
Beim Schöpfer, wer hatte nur das andere?
Als Verna durch die Tür zu ihrem Vorzimmer stürmte, sprang Schwester Phoebe auf, als hätte ihr jemand einen spitzen Stock ins Hinterteil gepiekst.
Ihr rundliches Gesicht verfärbte sich rot. »Prälatin … habt Ihr mich erschreckt. Ihr wart nicht in Eurem Büro … ich dachte, Ihr wärt schlafen gegangen.«
Verna überflog den mit Papieren übersäten Schreibtisch. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, daß du genug Arbeit für einen Tag getan hast und dich ein wenig ausruhen sollst.«
Phoebe rang die Hände und wand sich. »Das habt Ihr, aber dann fielen mir noch ein paar Abrechnungen ein, die ich vergessen hatte, auf ihre Richtigkeit zu prüfen, und ich hatte Angst, Ihr würdet sie sehen und mich zur Rechenschaft ziehen, also lief ich rasch zurück, um die Zahlen eben durchzugehen.«
Verna mußte an einen ganz bestimmten Ort, überlegte sich aber noch einmal, wie sie das bewerkstelligen sollte.
»Phoebe, was würdest du davon halten, eine Aufgabe zu übernehmen, die Prälatin Annalina stets ihren Verwalterinnen anvertraut hat?«
Schwester Phoebes Finger beruhigten sich. »Wirklich? Was denn?«
Verna deutete mit einer Handbewegung hinter sich auf ihr Büro. »Ich war draußen in meinem Garten und bat um Unterweisung, und da kam mir die Idee, daß ich in diesen schwierigen Zeiten die Prophezeiungen zu Rate ziehen sollte. Wann immer Prälatin Annalina dies tat, ließ sie die Gewölbekeller stets von ihren Verwalterinnen räumen, damit sie sich nicht von neugierigen Augen belästigt fühlen mußte, die mitbekamen, was sie las. Wie würde es dir gefallen, wenn du die Gewölbekeller für mich räumen lassen würdest, so wie ihre Verwalterinnen es für sie getan haben?«
Die junge Frau sprang vor Freude in die Höhe. »Wirklich, Verna? Das wäre großartig.«
Junge Frau – von wegen, dachte Verna gereizt. Sie waren im gleichen Alter, auch wenn es nicht so aussah. »Dann laß uns gehen, ich habe noch Palastgeschäfte vor mir, denen ich mich widmen muß.«
Schwester Phoebe griff nach ihrem weißen Tuch und warf es sich über die Schultern, während sie durch die Tür eilte.
»Phoebe.« Das rundliche Gesicht lugte um den Türpfosten. »Sollte Warren in den Gewölbekellern sein, dann laß ihn bleiben. Ich habe ein paar Fragen, und er kann mich besser zu den richtigen Bänden führen als die anderen. Das spart mir
Weitere Kostenlose Bücher