Die Gutachterin
geht vorüber, glaub mir. In ein paar Monaten ist der ganze Alptraum nichts als eine Anekdote.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »O nein, Peter. Dies hier geht nicht vorüber …«
»Hör mir zu: Gerade du hast dir nichts vorzuwerfen. Schließlich hast du, seit ich dich kenne, die Rotkreuzschwester gespielt.«
»Und was hat es genützt?« Ihr Kopf schmerzte, hinter den Schläfen entstand ein heiß hin und her fließender Druck. »Peter, kann ich heute nacht in deinem Gästezimmer schlafen?«
»Meinst du, ich laß dich gehen?«
Sie versuchte ein Lächeln, doch das mißlang ihr gründlich. Wieder sah sie die Schrift vor sich, las das schreckliche Wort … Und die Bilder drehten sich wie in einem langsamen Karussell. Der Schwurgerichtssaal, der Glaskäfig, Ladowskys Hände, die den Kopf umklammerten, Ladowsky am Boden auf der Trage, sein bleiches Gesicht, die Augen … seine Hand in ihrer Hand, sein Flüstern: »Laß mich nicht … Bitte, laß mich nicht …«
Sie richtete sich auf. »Es ist endlich Zeit, die Rechnung aufzumachen, Peter.«
»Welche Rechnung?«
»Meine. Die der letzten zwanzig Jahre … Ich habe den falschen Beruf gewählt und dann das falsche Land und die falschen Menschen geliebt – und jetzt, wie sagt man so schön … Klar doch, geschieht mir nur recht.«
Er stand auf und marschierte durch den Raum, nahm eine verchromte Kugel vom Regal und spielte damit, als könne er sie so ablenken.
»Was heißt schon das falsche Land?« sagte er schließlich. »Das Land, zu dem man gehört, kann man nicht wählen.«
»O doch. – Und gerade ich.«
»Und falscher Beruf? Du leistest vorzügliche Arbeit. Und du hast einen Erfolg, um den dich viele beneiden. – Kennst du übrigens Markus Bennartz? Aus deiner Göttinger Zeit müßtest du ihn eigentlich kennen! Er ist etwas älter als du.«
»Bennartz?« – Der Name hatte zunächst nichts als ein schwaches Signal in ihrem Gedächtnis ausgelöst, doch nun sah sie ein Gesicht vor sich: Knochig, bebrillt – natürlich, ›Mark‹, er hatte bereits im zehnten Semester studiert und ihr bei den Seminaren ständig von seiner Begeisterung für Fayencen und präkolumbianische Plastiken vorgeschwärmt. Später hatte er ihr dann endlos lange Briefe mit Fotos geschickt …
»Ja. Und wie kommst du auf ihn?«
»Ich habe ihn kürzlich getroffen. Der hat es als ›Freier‹ nicht geschafft und ist dann in den Staatsdienst gegangen. Er hatte so seine Beziehungen. Das Wichtigste aber: Er hat die Leitung von Mettenau übernommen. Diese neue Maßregelklinik, in der auch dein Ladowsky landen könnte, falls du mit dem Gutachten morgen Erfolg hast.«
Dein Ladowsky? Wieso lächelte er eigentlich dabei? Sie fühlte sich zu schwach, um sich gegen dieses Lächeln zu wehren.
»Dann hättest du es später mal mit Bennartz zu tun, nicht wahr? Und das wäre nicht schlecht.«
Sie legte den Kopf zurück und sah ihn an: »O nein, Peter. Ein anderer vielleicht … Ich nicht, ich bin weg.«
»Nun komm schon. Ich sag' doch, morgen sieht alles bereits ganz anders aus. Und überhaupt …«
Er redete nicht weiter. Das Telefon summte. Er ging zu der breiten Bücherwand, auf deren Bord es stand, und nahm den Hörer ab. »Verzeihen Sie bitte die Störung. Hier spricht Professor Reuter«, sagte eine Stimme. »Ich bin auf der Suche nach Frau Dr. Reinhard, und für solche Fälle hat sie mir Ihre Telefonnummer gegeben.«
»Einen Augenblick. Sie ist hier …«
Er deckte die Telefonmuschel ab und winkte Isabella. »Es ist dein Professor Reuter.«
Sie nahm ihm den Hörer aus der Hand.
»Isabella? Tut mir leid, wenn ich Sie störe … Ich wollte Sie nur ganz kurz informieren: Ich bekam gerade einen Anruf vom Krankenhaus. Ladowskys Mutter ist tot. – Was meinen Sie, ist das für ihren Gutachtervortrag morgen von Belang?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich weiß es wirklich nicht.« Wieder fühlte sie die Schwäche zurückkommen …
* * *
Zum zweitenmal machte sich der Gerichtsangestellte am Mikrofon zu schaffen. Er tat es auf Geheiß des Vorsitzenden, irgend etwas schien mit der Aussteuerung nicht in Ordnung. Isa war um die Atempause dankbar. Die Nervosität des Anfangs aber, dieses Gefühl, auf einer Theaterbühne zu agieren und dabei von hundert Augenpaaren angestarrt zu werden, dazu die finstere Miene Richard Saynfeldts, der sie zunächst zu fixieren versuchte wie das Kaninchen die Schlange und seither geduckt über seinen Akten brütete – all das war vorüber …
Doch nun kam
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