Die Gutachterin
sie zum Kern, nun waren die wichtigsten Argumente an der Reihe, nun mußte sie alle überzeugen.
»Also bitte nochmals, Frau Sachverständige«, hörte sie Martin: »Welchen persönlichen Entwicklungsumständen ist es nach Ihrer Kenntnis zuzuschreiben, daß es bei dem Angeklagten zu dieser sadistischen Abartigkeit und in der Konsequenz zu solchen Taten gekommen ist …?«
Sie strich über die schwarze Jacke ihres Kostüms und beugte sich zum Mikrofon vor. Nun war es entscheidend, daß jeder hier ihre Ausführungen begriff.
»Wir alle, Herr Vorsitzender, sind von Geburt an eingeschlossen in unser eigenes Sein«, begann sie. »Unsere Körperlichkeit bedeutet somit etwas wie eine Grenze … Man könnte vielleicht sogar sagen, so etwas wie eine Mauer oder ein Gefängnis, das uns von dieser Welt trennt – von ihren Wahrheiten, Tatsachen, Anforderungen und auch von unseren Mitmenschen … Ich sagte, wir alle! Jeder.«
Martin am Richtertisch nickte, als habe sie gerade etwas verkündet, was er noch nie bedacht hatte.
Sie verstärkte das Argument: »Jeder von uns erlebt sich, erlebt das eigene Selbst in all seinen Schwankungen, den Höhen und Tiefen, aber auch in seiner Zerrissenheit als die einzige Wirklichkeit, die er kennt, mit der er vertraut ist, die er beobachten und steuern kann … Das Außen wiederum bleibt ihm zunächst fremd. Mit ihm kommunizieren wir über unsere Sinne vom ersten Tag unseres Lebens an. Das Wissen über diese fremde Welt, in die wir eingebettet sind, wird uns als Kind vor allem über die Reaktionen vermittelt, die wir von dort erhalten. Sie sind das Echo auf unsere Signale oder auf unsere Handlungen. In anderen Worten: Wir lernen mit Hilfe unserer Mutter. Sie ist unser erstes Echo – unser Spiegel der Welt.«
Es war ganz still. Sie wandte den Blick zum Saal. Jetzt hatte sie alle miteinbezogen, jeden an seine persönliche Erlebnissphäre erinnert – und das war gut so.
»Ich habe zuvor schon detailliert geschildert, wie sich im Fall Ladowsky eine geradezu einzigartige – und ich meine damit eine einzigartig zerstörerische – Mutter-Kind-Beziehung herausgebildet hat. Die Mutter, die, aus welchen Gründen auch immer, Männer haßt und ihr tiefes Gefühl des Verlassenseins oder Ungerecht-behandelt-Werdens auf das Kind überträgt. Was sie dazu gebracht hat – wir werden es vielleicht nie erfahren. Tragischerweise ist sie während dieser Prozeßtage lebensbedrohend verletzt worden und inzwischen gestorben … Doch aus diesen genannten, in ihrer Tiefe wohl nie auszulotenden Gründen verlangte sie von ihrem Kind etwas, das es ihr nicht geben konnte: Nicht den Jungen, nein, ein Mädchen wollte sie in ihm sehen.«
Sie blickte zur Kabine hinüber. Es war das zweitemal. Da saß er, nicht mehr nach vorn gekrümmt wie zuvor, nein, die Hände um den Rand des Stuhls geklammert, das Gesicht ihr zugewandt, die Augen weit aufgerissen.
»Ein Wunschverhalten also, man könnte sagen: Eine zweite, eine Fantasiegeburt fand statt. Und das Kind, hilflos wie jedes Kleinkind der Mutter ausgeliefert, der Quelle alles Guten, der Nahrung, des Beschütztwerdens – aber für das Kind auch der einzige Spiegel der Welt, den es besitzt – bekam die Liebe, ohne die kein Säugling, kein Kind allein schon körperlich existieren kann, nur dann, wenn es in seinem Verhalten diesem Wunschbild der Mutter entsprach, wenn es sich als Mädchen benahm.«
Sie holte tief Atem, und ihre Stimme war nun getragen von einer ruhigen Eindringlichkeit: »Ich bitte Sie, sich eine derartige Situation vorzustellen. – Sie ist schwer nachzuvollziehen, ich weiß … Aber ich habe in diesem brennenden Haus in Walldorf die Kleider gesehen, die Ludwig Ladowsky mit drei, vier oder fünf Jahren zu tragen hatte.«
Saynfeldt klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte: »Einspruch!«
»Bitte, Herr Oberstaatsanwalt.«
»Was wir hier erwarten können, ist der Vortrag eines Sachverständigen, Herr Vorsitzender! Und dies bedeutet sachliche, exakte Angaben und keine emotionsgeladenen Bilder.«
Martin schüttelte den Kopf: »Ich kann dem Herrn Ankläger nicht folgen. Ich finde den Vortrag der Sachverständigen sehr informativ und aufschlußreich.«
Reuter nickte Isabella zu.
»Was ist also geschehen?« nahm sie den Faden wieder auf. »Genau das, was ich zuvor schon eine reine ›Objektbeziehung‹ genannt habe: Die Mutter, die ihr Kind zwar lieben mochte, sah in ihm dennoch keinen Menschen mit seinen spezifischen eigenen Rechten und
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