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Die Gutachterin

Die Gutachterin

Titel: Die Gutachterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Bedürfnissen, sondern ein Objekt – ein Objekt, das nach ihren Vorstellungen manipuliert werden mußte. Das Kind wiederum, das eine solche Erziehung, besser, eine derartige ›Dressur‹ erlitt, wurde in seinem tiefsten Seins- und Selbstwertgefühl verletzt. Es kompensierte daher diese schreckliche, narzißtische, frühe Kränkung geradezu zwangsnotwendig mit Haß.«
    Nun sah sie zu Saynfeldt hinüber, der ergeben in seinem Stuhl hing und jeglichen Blickkontakt mit ihr bisher vermieden hatte: »Jeder Junge, der zum Mann wird, und später jeder Mann, sieht gerade in der Bestätigung seiner Männlichkeit, also in seiner Geschlechterrolle den zentralen Punkt dieses Selbstwertgefühls. Wir erleben es Tag für Tag in unseren Straßen, in den Städten, den Dörfern, wie verzweifelt Jugendliche in den Gruppen, zu denen sie sich zusammenschließen, den Liebesentzug der Familie oder der Gesellschaft mit Männlichkeitsritualen auszugleichen versuchen … Ludwig Ladowsky jedoch bekam nicht einmal eine solche Chance, er durfte nie ein Junge sein. Und was war die Folge? – Haß, Haß aus Hilflosigkeit. Und dieser schreiende und doch stumme Haß suchte sein Objekt. Die Mutter, mit der er sich wie jedes Kind identifizierte, hat es ihm zugewiesen: Es waren die bösen Frauen, der Sex, jener Sex, der ihre Ehe zerstört hatte …«
    Isa machte eine neue Pause. Nun sprach sie zu den Schöffinnen: »Ludwig Ladowsky, darin liegt das eigentlich Tragische, Ludwig Ladowsky übernahm noch in einem anderen Punkt die Gedankenwelt seiner Mutter und wurde damit zum Täter: So wie sie in ihm das Objekt gesehen hatte, so sah auch er nun in den Frauen, in all diesen in seinen Augen sündigen, sexgierigen, hübschen, jungen Mädchen, auf die die eigene Sexualität ja abzielen mußte, keine Mitmenschen mehr, sondern nur noch Objekte. Bei allen anderen war es nicht so. Sensibel und zartbesaitet, wie er sich gibt, suchte er bei Nachbarn, Schulkameraden, Freunden und Kollegen immer nur das eine: Anerkennung. Und war bereit, dafür alles zu geben. – Aber da gab es ja noch den anderen, den düsteren Bereich in ihm: das Reich der Stimmen des ›bösen Engels‹, von dem er manchmal spricht. Diese Zone wurde bevölkert von den ›gefallenen Engeln‹, von jungen, Sex verkörpernden Mädchen und Frauen. Ludwig Ladowsky hat nie eine erotische oder sexuelle Anziehung im Hinblick auf Kinder empfunden, für ihn zählen nur solche weibliche Wesen, die aus seiner Sicht ›sündig‹ werden konnten. Die einer Sünde anheimfielen, die ihn selbst faszinierte. Das Schlimme daran: Er konnte diesen seinen Objekten keine menschlichen Regungen, weder Entsetzen, Angst, Gefühle, noch nicht einmal Schmerzen zubilligen …«
    Es hatte während dieses letzten Teils ihres Vortrags im Raum kaum ein Räuspern gegeben. Gebannt verfolgte das Publikum jedes Wort, und auch am Richtertisch die gleiche Reaktion: gerunzelte Brauen, äußerste Konzentration.
    Isabella hatte das Gefühl, erreicht zu haben, was sie erreichen konnte. Sie bemühte sich jetzt um einen ruhigen, sachlichen Ton.
    »Aus meiner Sicht«, sagte sie, »und aus diesen Gründen liegt im vorliegenden Fall ein bereits in der Frühzeit verankertes Entwicklungstrauma von so zerstörerischem Ausmaß und einer so verheerenden Auswirkung vor, daß im Sinne der Paragraphen zwanzig und einundzwanzig die Schuldunfähigkeit des Angeklagten zu bejahen ist.«
    Martin hob die Hand: »Und wie, Frau Sachverständige, beurteilen Sie die Rückfallgefahr bei dem Angeklagten?«
    »Wir wissen, Herr Vorsitzender«, erwiderte sie langsam und jedes Wort auf die Waagschale legend, »und auch die forensische Psychiatrie weist stets aufs neue darauf hin, daß solche Prognosen nur unter der Voraussetzung einer ständigen therapeutischen Begleitung der betreffenden Person möglich sind. Was den Fall Ladowsky von anderen ähnlich gelagerten Fällen abhebt, ist doch, daß bisher, auch bei seiner vorherigen Haftzeit, nie der Versuch, ja nicht einmal der Ansatz einer ernsthaften Therapie unternommen worden ist.«
    Am Tisch der Staatsanwaltschaft schnellte die lange Gestalt des Anklägers hoch.
    »Herr Vorsitzender – eine Frage an die Frau Sachverständige.«
    »Bitte, Herr Oberstaatsanwalt.«
    Saynfeldt sah Isabella an und machte erst einmal eine lange Pause. Sie wurde im Zuschauerraum von unterdrücktem Flüstern und leisem Füßescharren begleitet. Schließlich, man wußte doch Bescheid … Die Zeitungen hatten's geschrieben, der Kurier hatte

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