Die Gutachterin
Zorn. Sie erinnerte sich daran, wie er auf die Bilder reagiert hatte: ungläubig, mit lähmender Stille – aber doch wie ein Mensch, der sich derartige Fotos betrachtet, mit dem Mord aber nichts zu tun hat.
»Was ist, Ludwig? Ist es so schwer, sich das wieder vorzustellen?«
»Ich hab' dir doch gesagt, daß ich …«
»… daß du nichts damit zu tun hast – ist es das …? Daß es dir die Stimme befohlen hat …? Daß du nichts mehr davon weißt …? Daß alles einfach passierte, so wie eine Explosion passiert – ist es das?«
Er stöhnte.
»Also, wir sind wieder im Wald. Und gleich hinter dem kleinen Berg fließt der Fluß. War nicht sehr angenehm, das ganze Blut wegzuwaschen, es verklebte alles … Auch deine Hände …? Hast du es mal geschmeckt? Hast du deine Finger abgeleckt? Hast du diesen Geschmack auf der Zunge gehabt, so ein bißchen süßlich, so ein bißchen nach Metall, als ob man vom Zahnarzt käme?«
»Hör auf! – Bitte, bitte, hör auf. Ich kann doch nicht … ich darf doch nicht …«
»Ich darf doch nicht dran denken, ist es das?«
»Isa, hör auf.«
»Ja? Soll ich das? Willst du das haben? – Wirklich? Meinst du, es macht mir Freude, mich mit dir darüber zu unterhalten? – Aber bitte, ich hab' dir vorhin schon gesagt: Es reicht, daß du dich weigerst, mit mir zu reden … Ich höre sofort auf. Ich gehe, und du siehst mich nie mehr wieder.«
»Nein!«
Bisher hatte er die Stimme noch unter Kontrolle gehabt, nun war es damit vorbei. Gerade noch stand er aufrecht, jetzt beobachtete sie, wie er zusammensackte, wie die Knie sich einwinkelten, wie er kleiner und kleiner wurde, bis er schließlich in der Hocke verharrte, die Hände schützend um den Kopf gelegt – dieselbe Geste, die er so viele Tage im Gerichtssaal eingenommen hatte, nichts sehen, nichts hören, nichts wissen – und schon gar nicht reden.
Sie ließ ihn dort am Boden kauern, lehnte den Rücken gegen die Wand und sprach weiter: »Du kannst Augen und Ohren verschließen, Ludwig, aber du wirst es trotzdem hören: ihr schreckliches Weinen … Heute nacht schon, morgen … Du wirst ihre Schreie wieder hören, als du diesen Stock in die Hand nahmst … ›Bitte, tu es nicht‹, wirst du hören, ›bitte, laß mich …‹ Dann werden es die Schmerzensschreie sein, ein hoher, greller Laut, aber der machte dir ja Spaß! – Jetzt wohl nicht mehr, oder empfindest du Freude, wenn du daran denkst?«
Kein Wort kam. Nichts als ein lauter und lauter werdendes Wimmern.
»Du wirst ihre Tränen sehen, denk jetzt daran, wo du heulst. Ihr verzerrtes Gesicht wirst du sehen, das nun gar nicht mehr schön ist, … ihre Schreie … Ja – jetzt wieder? Hörst du sie, Ludwig …? Und ihr verzerrter, blutender Mund? Die geschlossenen Augen? Denn das kann sie ja nicht, dich ansehen, Ludwig? Sag es …! Nein, denn dazu fehlt ihr die Kraft, so viel Angst hat sie vor dir … so schreckliche Todesangst …! Und die Tränen, Ludwig? Was ist mit ihren Tränen? Das sind doch andere Tränen als deine …«
Sie hörte nur noch ein dumpfes, ersticktes, hechelndes Schluchzen.
Noch eine Minute – dann ging sie zu ihm, berührte seine Schulter, nahm die Hand aber wieder zurück, als sie plötzlich trösten wollte, in einem Augenblick, wo dies auf keinen Fall geschehen durfte.
»Die Antwort, Ludwig …? Hat sie dich angesehen, während du das alles getan hast …? Siehst du ihre Augen wieder …? Haben sie dich angesehen?«
Er kauerte nicht mehr, er lag seitwärts auf dem Boden, weinte, schluchzte, streckte die Beine aus und zog sie wieder an, um sie mit beiden Händen zu umklammern.
Dies reichte für das erste Mal. Es war genug.
So blieb sie im Halbdunkel, in dieser imaginären Hütte, die sie erschaffen hatte, sah auf ihn herab, und ihr Herz zog sich zusammen. Empathie, hatte sie zuvor gesagt, Mitleid. Sie fühlte es selbst …
»Am Freitag komme ich wieder, Ludwig. Vielleicht schon Donnerstag. Dann machen wir weiter …« , hörte sie sich sagen. »Du siehst, ich hatte recht: Es ist keine leichte Arbeit. Nicht für mich und nicht für dich … Denn du wirst jetzt, bis ich wiederkomme, jede Nacht dieses Bild sehen: Die Hütte … Evi … Du wirst ihre Schmerzen sehen und ihre Augen … Und du wirst ihre Stimme hören … Jede Nacht wirst du das hören … Und dann, dann reden wir darüber, was sie gesagt hat und was du gedacht hast … Denn jetzt gibt es keine Engelsstimmen mehr, Ludwig. – Nur noch deine. – Und ihre …«
* * *
Die Stunden
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