Die Gutachterin
fürchtete …
* * *
»Schau mal, Isa, das Wetter dort draußen …! Warum gehen wie nicht in den Garten? Da ist es viel schöner …«
»Wir gehen nicht in den Garten, weil das kein Platz für unsere Arbeit ist.«
»Willst du nicht den anderen Stuhl nehmen, Isa? Der ist viel bequemer.«
»Kümmere dich nicht um meinen Stuhl, Ludwig … Hör zu: Was wir heute beginnen, ist Arbeit, harte, schwierige Arbeit … Wenn sie dir zuviel wird, kannst du dich ihr jederzeit entziehen. Das ist kein Problem. Du brauchst nur einen Satz zu sagen: Ich will nicht mehr.«
Ladowsky nickte gespannt, erwartungsvoll und froh wie vom ersten Augenblick an, als sie die Tür des blauen Bungalows geöffnet hatte.
»Für diesen Fall muß ich dir allerdings Konsequenzen ankündigen. Die eine heißt: Du wirst mich nicht wiedersehen, nie mehr … Aber das ist das wenigste. Die andere Folge wäre: Du wirst den Rest deines Lebens im Knast, also hinter Gittern verbringen. Eine Therapieverweigerung bedeutet nun wirklich lebenslänglich! – Und lebenslänglich heißt bis zum Ende.«
Er lächelte weiter. Warum? – Hatte er nicht begriffen …?
»Wenn du kommst, Isa, werd' ich gesund. Das weiß ich … Und darum geht es doch wohl, nicht wahr?«
Sie nickte. »Ja«, sagte sie, »nur darum.«
»Na also …«
O nein, dachte sie, es fehlt noch viel: »Ludwig, es gibt etwas unter Menschen, das in unserer Fachsprache ›Empathie‹ heißt … Empathie bedeutet im Grunde nichts anderes, als Einfühlungsvermögen für die Schmerzen, das Leid, die Sorgen des anderen zu haben. Ein Gefühl also, das die meisten besitzen und zu dem auch Mitleid gehört – mitfühlen, sich vorstellen zu können, was im anderen Menschen vorgeht, wie sie denken, Ängste haben … Nehmen wir ein Beispiel: Wenn die Katze hier im Garten einen Vogel anschleppt, einen Vogel, den sie umgebracht hat, was empfindest du dann?«
»Genau das, Mitleid. Nein, ich könnte einfach heulen … Ich kann das nicht sehen, ein totes Tier. Ich ertrag' das nicht, ich kann nicht daran denken, daß die blöde Katze, die ich eigentlich auch mag, ihn einfach umbringt, und daß der Vogel dann nicht mehr fliegen kann, verstehst du? Das macht mich fertig.«
»Dann tust du dir also selber leid?«
»Kann sein …«
»Wer tut dir mehr leid, der Vogel oder du selbst, der sich das nicht ansehen kann?«
»Weiß ich doch nicht.«
»Das zu unterscheiden sollst du aber lernen.«
Sie stand auf, ging zum Fenster und ließ die Jalousie herab. Es wurde dunkler und dunkler. Er drehte den Kopf, das Gesicht löste sich im Schatten auf, es blieb nur noch das helle Glitzern seiner Augen.
»Was soll denn das, Isa?«
Sie blieb am Fenster stehen. »Es war doch damals auch dunkel, Ludwig? Du hast doch die Tür hinter dir zugemacht, nicht wahr?«
»Welche Tür? Zieh doch den verdammten Rolladen wieder hoch.«
»Warum denn, Ludwig? Warum beunruhigt dich das?«
»Isa – bitte …«
»In einer Waldhütte gibt es immer ein wenig Licht. Auch wenn du die Türe zuziehst – ist es nicht so? Zumindest so viel Licht, daß du sehen konntest. Du weißt das doch? Du kennst dich da aus … Und das war ja gut für dich, nicht wahr? Sehr gut … Vielleicht hast du den Fensterladen ein wenig offen gelassen? – Gab es einen Fensterladen dort im Wald …? Na, ist nicht wichtig … Wichtig war doch, daß die Türe und das Fenster geschlossen blieben?«
»Isa … bitte …«
»Sie konnte ja schreien … und betteln und heulen …«
Zuvor war es still gewesen, jetzt konnte sie seinen Atem hören. Laut ging er, laut und schnell.
»Aber du mußtest sie sehen können … Daß sie gefesselt war … und daß sie Angst hatte … dieses schöne, junge Mädchen … Zuvor so abweisend und arrogant, aber dann hatte sie doch Vertrauen und stieg zu dir ins Auto. Du hattest gewonnen, Ludwig …«
»Nein …«
»O doch. Du hattest. – Denn jetzt windet sie sich vor dir auf dem Bett … Jetzt ist sie nichts als ein hilfloses, blutendes Bündel von Angst und Schmerzen. Und du hast alle Macht über sie, über ihren Körper …«
Er war aufgestanden. Seine Hände umklammerten die Lehne des Stuhls.
»Isa, was hat denn das mit der Therapie zu tun?« Dünn war die Stimme, lauter sein keuchender Atem: »Wir haben doch schon darüber gesprochen, damals … damals, als du mir diese grauenhaften Fotos gezeigt hast …«
»Na und? Dann denk mal an die Fotos. – Und jetzt reden wir wieder darüber.«
»Nein!«
Es war nicht nur Abwehr, es war
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