Die Gutachterin
vielleicht doch bedenklich, und so ging sie auf ihn zu, um ihn am Ellbogen zu stützen und dann zum Bett zu führen … doch er zog sie an sich, und da war wieder sein Gesicht, nur für den Bruchteil einer Sekunde lag es auf ihrer Schulter.
»Wie denn, Isa …«, hörte sie, und die Stimme war nun fast völlig erstickt durch den Stoff ihrer Jacke: »Ich habe immer daran gedacht … Wie soll ich da noch was essen? Oder schlafen? Kannst du mir das sagen – wie soll ich das?«
»Ist ja gut.« Sie hatte ihn nun am Bett und drückte ihn nieder. »Leg dich hin. Gleich kommt der Arzt.«
Er schüttelte den Kopf.
»Du wirst jetzt tun, was der Arzt sagt, Ludwig.«
Sie sagte es ganz ruhig und legte ihre Hand auf seine Stirn; er griff sofort danach. Die Berührung schien ihn zu beruhigen, die Schmerzensmaske auf seinem Gesicht verlor sich, die Züge wurden entspannter. Vorsichtig fühlte sie den Puls, er war nicht einmal schlecht – unruhig, das ja, aber nicht so schwach, wie sie befürchtet hatte. Er hielt die Augen geschlossen.
»Ich bin gleich wieder da … Nochmals, Ludwig: Du wirst genau das tun, was der Arzt dir sagt. Und du wirst essen. Und trinken.«
»Getrunken hab' ich ja.«
»Ach ja?«
»Draußen, am Wasserhahn.«
Na also, dachte sie, wenigstens das, und öffnete die Tür.
Bennartz und Höfer sahen ihr entgegen. Am Boden stand ein Plastikbehälter. Zwieback war darin, eine leichte Suppe, Kamillentee, all das, was man wohl so verabreicht, wenn ein Magen drei Tage ohne Nahrung blieb.
»Vielleicht sollte ich ihm zuerst eine Traubenzuckerinfusion geben«, sagte der Arzt.
»Ich glaube, das ist nicht nötig, Herr Höfer, gehen Sie nur rein.«
Die Tür schloß sich hinter ihm.
»Die Richterin in Weiß«, sagte Bennartz und musterte sie abschätzend aus seinen Eulenaugen: »Dann die Samariterin.«
»Was soll das, Markus?«
»Das weißt du doch. Du hast doch den Prozeß entschieden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das war nicht ich. Ich habe nicht gerichtet.«
»Was dann?«
»Ich habe nach meiner Überzeugung gehandelt.«
»Und die wäre?«
»Menschlichkeit, Markus – nur das …«
Die nächsten vierzig Minuten verbrachte Isabella in der Turnhalle. Sie war allein, Bennartz hatte zu tun, und der Arzt mühte sich wohl noch immer im blauen Bungalow – jedenfalls hatte sie nicht gesehen, daß Höfer zurückgekehrt wäre.
Es war Sportstunde. Die Turnhalle gehörte zum Gebäudekomplex der Anstalt, und die Fenster waren mit den üblichen schweren Stahlgittern gesichert. Den Sportplatz, der vor ihr lag, wiederum umlief ein hoher Maschendraht, derselbe, den sie um Ladowskys Garten gesehen hatte. Manchmal prallte der Ball dagegen, und es gab ein hohes, singendes Geräusch, dann raste eine Gestalt im Anstaltstraining heran, hob ihn auf und warf. Sie schienen Spaß zu haben. Es war mehr als ein Dutzend junger Männer, die sich dort drüben mit Gebrüll und Geschrei ihr Korbballspiel lieferten, und der Eindruck, den sie machten, war so fröhlich und manchmal so wild wie auf jedem Sportplatz an irgendeiner Schule. Aber das waren sie nicht – Schüler. Und sie waren auch nicht alle nur drogenabhängig, es bedurfte mehr, um als seelisch Gestörter in eine solche Anstalt eingewiesen zu werden, Mordversuch zum Beispiel, schwere Körperverletzung, jene blinde, anfallsartige Wutraserei, der eine Frau, ein Kind, die Freundin, der Kollege zum Opfer gefallen war.
Isabella versuchte, das Bild mit Markus Bennartz' Augen zu sehen: Jeder einzelne dort, der nun ein von Anstrengung oder Lachen verzerrtes Gesicht zeigte, war ein Fall für sich, vielleicht nicht so kompliziert wie Ladowsky, aber doch so schwierig, daß er ständiger Behandlung bedurfte. – Und wer sollte das schaffen?
Ein Lastwagen fuhr durch das grüne Maschentor dort drüben und näherte sich der Wäscherei. Sie hatte den Kopf gedreht und erkannte, daß Höfer aus dem Garten kam. Das Tor blieb offen. Warum eigentlich? Zum Sportplatz gab es also eine direkte Verbindung. Und hatte nicht Bennartz gesagt, daß Ludwig geschützt werden müsse? Sexualtäter, die ›Kinderficker‹, sie stünden auf der untersten Stufe der Gefängnishierarchie, und wie in jedem Gefängnis, wo sich Aggressionen wie unter dem Brennglas sammelten, mußte ein Prügelknabe her.
Jetzt schien Dr. Höfer seinen Irrtum bemerkt zu haben. Gemächlich ging er zurück, schüttelte den Kopf, ließ das Tor aber weiter offen.
Sie bat den Sportbeauftragten der Anstalt, einen Beamten, ihr die Tür
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