Die Gutachterin
etwas übergeben worden, und sie konnte keinen Namen dafür finden, nur eine Erinnerung: die Erinnerung an die Schule in Lima, ›el Instituto del Santo Corazón‹, und Isabella Reinhard, die beim Dreitausendmeterlauf als vierte, als Teamletzte eingesetzt wurde, um den Stab der anderen Staffelläuferinnen durchs Ziel zu tragen … Stimmte es? War es das? Oder gab es noch etwas … Ja, dachte sie – es gibt etwas, das mit all dem zu tun hat, was man ›Herz‹ nennt, und das deshalb heftiger schmerzen kann als alles andere. Da ist der Gedanke an ein Gesicht, das nach Hilfe schreit, an das Gesicht eines Menschen, der mehr Hilfe braucht als jeder andere, den du je erlebt hast, und es ist ein Gesicht, das dir langsam so vertraut ist, als sei es das deines eigenen Kindes … Und da ist zum Beispiel die Tatsache, daß du selbst nie ein Kind gehabt hast. Ist das zu sentimental? O nein: Er ist dir ausgeliefert wie ein Kind. Und dich verbindet mit ihm etwas, das mehr ist als das Schicksal einer Geburt. Er ist dir völlig ausgeliefert. Und du wirst einen dir Ausgelieferten nicht im Stich lassen. – Wie war dieser Satz, dachte sie: »Zur wahren Menschwerdung kann es nur dann kommen, wenn man mehr zu geben bereit ist, als man nimmt …«
Das war es. Und schließlich hatte es der alte Platon gesagt. Und was zählte dem gegenüber alles andere?
Isabella Reinhard schaltete Scheinwerfer und Scheibenwischer ein, zwängte sich in eine Verkehrslücke und gab Gas …
* * *
Es war ein grün getünchtes Gebäude in der Gallusstraße. IHR SICHERHEITSEXPERTE stand in großen goldenen Buchstaben über dem Eingang, und darunter, etwas kleiner: ›Schlüsseldienst.‹ – Schlüssel, Schlösser, Alarmanlagen lagen in allen Schaufenstern.
Isabella stieß die Glastüre auf und ging zu einer der drei großen, grauen Stahltheken, die in der Mitte des Raumes standen. Ein junger Mann in einem blauen Arbeitsmantel mit dem aufgestickten Firmenzeichen an der rechten Brust beugte sich lächelnd zu ihr.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ja, schon. Ich habe Ärger – das heißt, ich habe ein Problem …«
»Und das wäre?«
»Ein Bekannter brachte mir so ein großes Vorhängeschloß, ein ziemlich massives Ding. Ich habe es an meinem Gartenhaus angebracht, wo ich meinen Wein aufbewahre – und jetzt sind die Schlüssel weg, alle verschlampt … Ich habe das ganze Haus auf den Kopf gestellt – nichts.«
»Na ja«, sagte er, »wenn Sie die Marke wüßten …«
Sie wußte sie. Sie hatte sie sogar aufgeschrieben, die Marke und auch die Nummer, 143, die darunter gestanden hatte und die vielleicht eine Typenbezeichnung war. Sie brauchte den Notizzettel nicht, sie hatte beides im Kopf.
»Mars«, sagte Isa. »Dabei steht die Nummer 143.«
»Mars?« Er zog die rechte Augenbraue hoch. »Kenn' ich nicht. Ein deutsches Fabrikat kann es also nicht sein. Aber Moment mal …«
Er ging zu dem Monitor, der in der rechten Ecke der Theke stand, und bearbeitete die Tasten. Sie beobachtete ihn. Der konzentrierte Ausdruck in seinem Gesicht wich einem erfreuten Lächeln, und da war er schon zurück.
»Wir haben Glück, ›Mars‹ gibt's tatsächlich. Ein polnisches Schloß, sehr preiswert, deshalb haben wir sie auch importiert. Die Dinger haben wir auf Lager.«
Ihr Herz schlug schneller. »Wirklich?«
»Ja.«
»Und was soll ich jetzt machen?«
Er überlegte. »Ja, wenn Sie das Schloß bringen könnten – das sind zwar osteuropäische Fabrikate, aber doch ziemlich stabil …«
»Hätten Sie keine Schlüssel dazu?«
Er zögerte.
»Bitte«, drängte sie.
»Nun, das ist so, es gibt für jedes Schloß natürlich verschiedene Varianten, bei den deutschen Systemen können es Hunderte sein – die Polen machen sich's da einfacher. Wie ich hier im Computer sehe, haben die von Mars gerade neun verschiedene Schlüssel.«
»Aber ich kann doch jetzt nicht neun Schlüssel kaufen.«
»Das brauchen Sie auch nicht.« Er überlegte wieder und runzelte die Stirn. »Na schön, gnädige Frau, vielleicht ist es nicht ganz korrekt, aber weil Sie's sind … Falls Sie wollen, kann ich Ihnen die neun Schlüssel heraussuchen und könnte von jedem eine Kopie machen lassen. Wäre Ihnen damit gedient?«
»Und wie«, lächelte sie. »Sie sind wirklich sehr freundlich.«
»Na ja, wenn jemand nicht an seinen Wein kommen kann … Vielleicht haben Sie in der Gegend was zu tun und kommen in einer Viertelstunde wieder. Dann ist das Ding geritzt.«
»Wirklich sehr, sehr
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