Die Gutachterin
dem Wald lösten sich zarte, dunklere Striche, dort regnete es bereits. Die Welt sog sich mit Schatten voll, und sie atmete tief die feuchte Luft ein … Es mußte etwas geschehen … In dieser Sekunde, als sie spürte, wie die Luft in ihre Lungen strömte, wurde es Isabella klar:
Du mußt handeln …!
»Du hast es mir gesagt«, wiederholte sie. »Und das heißt, daß du also gewußt hast, was hier ablaufen könnte. Warum, Herrgott noch mal, hast du dann nicht gehandelt? Wenn dir das schon alles klar ist, wieso, verdammt, hast du nicht aufgepaßt …? Das hätte man doch verhindern können! – Wenn da solche Schweine rumlaufen, dann schaut man doch zu, daß die keine Möglichkeit haben, hier reinzukommen!«
»Schweine?« Bennartz verzog den Mund. »Schweine vielleicht – aber keine Mörder … Was ist Ladowsky denn?«
»Das steht doch überhaupt nicht zur Debatte. Hier geht's um was ganz anderes. Hier geht's um die Fürsorgepflicht, die du als verantwortlicher Leiter gegenüber einem Gefangenen hast.«
Bennartz sah sie nur an, schüttelte den Kopf und ging zum Tor. Dort blieb er stehen, drehte sich um, betrachtete sie wieder und deutete schließlich auf das Schloß.
»Einer der Typen arbeitet in unserer Metallwerkstatt. Für den war das nicht schwierig, das aufzukriegen. Kannst du mir sagen, wie ich so was voraussehen soll?«
Sie passierten das Tor, das man jetzt mit einer Stahlkette gesichert hatte; Vanadiumstahl, wie Bennartz sagte, ›kriegt keiner durch‹. Die Kette war mit einem schweren, verchromten Vorhängeschloß versehen. Sie nahm es in die Hand, sah es sich an und prägte sich den Namen ein: ›Mars‹ stand da.
»Isa«, hörte sie ihn.
»Ja?«
»Du fragst mich nach meiner Fürsorgepflicht, nach Verantwortung …? Wenn du hier arbeiten müßtest, dann wäre dir bald klar, daß das nur Gesabbere ist, Worthülsen, nichts weiter.«
Sie fuhr hoch, aber er hob die Hand.
»Ich habe auch 'ne Frage an dich.«
»Und?«
Er kam noch näher, und der Blick seiner vergrößerten Augen wurde unangenehm und drängend: »Was ist eigentlich in dich gefahren? Warum setzt du dich derart für diesen Mann ein? Was bedeutet dir Ladowsky? Es ist ja langsam schon so, als gäbe es nichts Wichtigeres für dich als diesen Fall … Was ist bloß los mit dir, Isa?«
»Das kann ich dir sagen.« Sie bezwang sich, um sich die Erregung nicht anmerken zu lassen. »Während dieser ganzen Ladowsky-Veranstaltung bekam ich so viel Dreck ins Gesicht, daß ich es gerne wieder sauberbekommen möchte. Ich will etwas beweisen, und deshalb will ich ihn therapieren und werde das auch tun. Aber die Grundvoraussetzungen müssen stimmen, verstehst du – mit einem zusammengeschlagenen, verletzten Menschen kann ich nicht arbeiten.«
Er bewegte den Kopf hin und her. »Es geht also um deinen Ehrgeiz, ist es das?«
»Es geht um die Sauberkeit in meinem Job. – Und um das, was man Recht nennt.«
»Und daß du noch ein wenig bekannter wirst …« Sein Lächeln wurde häßlich.
Sie nahm sich zusammen. »Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, Markus, ich bin keine Karrierefrau. Nochmals: Es geht um meinen Auftrag, die Therapie durchzuführen, und daran, das kannst du mir glauben, wird mich niemand hindern …«
Was nur ist mit dir los, Isa …?
Markus Bennartz hatte wohl recht gehabt, die Frage zu stellen, dachte sie, als sie den Wagen über den Zubringer zur Autobahn steuerte. Für ihn werde ich langsam zur merkwürdigen Figur …
Der graue Himmel hatte damit begonnen, seinen Regen über das Land auszuschütten. Es war nun 18 Uhr 30, der Stoßverkehr hatte begonnen, und sie sah ihn dort drüben vorüberziehen, einer am anderen, Stoßstange an Stoßstange, die Lichter waren eingeschaltet, Wasser- und Dreckfontänen zogen hinter den Autos her. Sie blinkte rechts, bog auf den Parkstreifen, hielt an und schaltete den Scheibenwischer ab.
Die Tropfen trommelten auf das Dach.
Was bedeutet dir Ladowsky?
Ja – er hatte recht gehabt zu fragen, und es war Zeit, allerhöchste Zeit, daß sie sich selbst die Antwort gab. Der Ehrgeiz? O nein. Vor dem Gewicht der Wahrheit wirkte das fast lächerlich – es war etwas anderes, es war mehr, es war schlimm … Die Frau mit den brennenden Haaren in Walldorf, wie oft war sie ihr in ihren Alpträumen erschienen … Und Ludwig? Damals, während des Prozesses, als er auf der Tragbahre neben dem Schwurgerichtssaal lag: »Laß mich nicht allein! Bitte, laß mich nicht allein …« Es war, als sei ihr
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