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Die Gutachterin

Die Gutachterin

Titel: Die Gutachterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Patienten am Vormittag hatte sie allen absagen lassen.
    Um 23 Uhr fuhr sie bereits Richtung Karlsruhe. Das Wetter war diesig, zum Himmel brauchte sie nicht hochzublicken: Der Mond befand sich am Ende seiner Abnehmephase, er war zu einer kleinen Sichel geschrumpft, die kaum Licht spendete.
    Sie zwang sich, nicht weiter an das zu denken, was vor ihr lag, und konzentrierte sich nur auf das Fahren. Hinten, auf der Rückbank des Golfs, lag der Koffer. Eine Perücke befand sich darin, in etwa Ladowskys Größe, ziemlich viele Locken, die Farbe dunkelblond. Bei derartig blauen Augen wäre schwarz wohl aufgefallen … Die Perücke konnte er sich über die abgesengten Haare auf seinem Kopf stülpen. Dazu hatte sie zwei Jeans besorgt, eine vergammelte Lederjacke, die irgend jemand mal in der Praxis hatte hängen lassen, karierte Hemden, Badehose, Handtuch – all die Dinge, die man im September an einem See in Österreich brauchen konnte.
    Nur – ob sie zu diesem See überhaupt kämen, das stand noch nicht fest …
    Zwanzig Minuten später bereits tauchte das große Hinweisschild ›Ausfahrt Mettenau – 3 km‹ im Scheinwerferlicht auf.
    Sie durchquerte zwei verschlafene Dörfer und schaltete vom Fünften auf den Vierten, als es den Hang zum Wald hochging.
    Und dann parkte sie doch.
    Sie stieg aus, holte die Zigaretten aus dem Handschuhfach und zündete sich eine an. Der verdammte Prozeß hatte sie wieder zur Raucherin gemacht. Aber wenn es nur das wäre … Sie sog den Rauch tief ein. Der Wald lag völlig still. So dunkel war es hier, daß die Grenze zwischen den Baumkronen und dem Himmel verschwand.
    Die grünen Leuchtziffern ihrer Armbanduhr zeigten zwanzig Minuten vor Mitternacht.
    22 Uhr 30, so hatte er gesagt, käme die Wache durch. Und an den Werktagen auch nochmals um drei. An den Werktagen – heute war Sonntag.
    Sie betrachtete den rotglühenden Punkt, den ihre Zigarette ins Dunkel tupfte.
    Warum stand sie hier?
    Warum brachte sie es nicht hinter sich?
    Es waren weder Zweifel, noch war es Angst, weswegen sie alles nochmals durchdachte, dieses Stadium lag längst hinter ihr. Was jetzt vor ihr auftauchte, war das Bild ihres Vaters. Sie hatte ihn ja nie gekannt, nur seine Fotografie, er war gestorben in jener Kindheitsphase, in der Menschen nichts anderes bedeuten als vage Umrisse, Nähe und Geräusche. Er hatte sie allein gelassen, sie in die Hände einer dominanten Mutter gegeben, der nichts wichtig war außer ihr selbst.
    Auch das hatte sie mit Ludwig gemeinsam.
    Mama hatte wenig von Isabellas Vater gesprochen, sie waren wohl zu verschieden gewesen, als daß sie etwas weitergeben wollte. Doch einen Satz hatte sie einige Male zitiert, und der fiel ihr nun ein: »Ehe du etwas mit halbem Herzen beginnst, laß die Finger davon …«
    Na also …
    Sie setzte sich wieder in den Wagen, ließ den Motor an und fuhr weiter. Ein Lkw kam ihr entgegen. Das Scheinwerferlicht zwang sie, die Lider zu schließen, und für eine Sekunde explodierte nun doch die Panik in ihrem Kopf: Wenn der Fahrer sich erinnern würde? Ein schwarzer Golf mit Frankfurter Kennzeichen …? Darin eine Frau …?
    Was soll das, befahl sie sich, nimm dich zusammen! Was ist schon an einem Golf mit einer Frau als Fahrerin besonders auffällig? Und außerdem: Wer wird je Verdacht schöpfen können, daß du etwas damit zu tun hast?
    Der Wald trat zurück, es wurde heller. Die Straße lag gerade vor ihr, das Licht der Scheinwerfer zerschnitt die Dunkelheit, als gebe es keine Grenzen …
    Sie sah die vier Pappeln rechts am Weg aufragen, fuhr mit klopfendem Herzen auf die Ausweichstelle, die sie Ludwig bezeichnet hatte, stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Dann ließ sie die Scheibe völlig herunter. Die Nachtluft strömte herein. Drüben rechts zeichnete sich die Lichterreihe der Anstalt ab, auf der anderen Seite, weit entfernt, sah man wenige verlorene Helligkeitspunkte: das Dorf.
    Sie legte den Kopf zurück, wartete, hoffte darauf, daß er hinter einer Pappel aus der Nacht auftauchen, die Tür öffnen und sich neben sie setzen würde …
    Doch da war niemand. Kein Laut. Nur das Pochen ihres Herzens und ein feines Rauschen in den Ohren. – Und das Gebell eines Hundes in weiter Ferne …
    An der Ausfahrt stehen vier Pappeln, hatte sie zu ihm gesagt.
    Da standen sie, und ihre Augen hatten sich inzwischen so an die Dunkelheit gewöhnt, daß sie ihre schwarzen, schmalen Umrisse vor dem Himmel erkennen konnte; da standen sie, und in ihren

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