Die Gutachterin
Taunusstraße.«
»Also mitten in der City?«
»Mitten in der City.«
»Ich könnte natürlich reinkommen …« Eine kleine Pause, er hörte sie atmen. »Das heißt, falls Sie es nicht vorziehen würden, mich zu besuchen. Vielleicht könnten wir einen kleinen Happen zusammen essen? Außerdem gibt's hier einen prima Weinkeller. Auf guten Wein legt mein Vater nämlich ganz besonderen Wert.«
Sie wohnte also bei ihren Eltern? Sein Interesse erlahmte.
»Ich werde heute abend doch nicht Ihren Herrn Vater …«
»Sie werden gar nichts, Herr Saynfeldt. Den Herrn Vater seh' auch ich kaum mehr. Der düst mit seinen Geschäften ständig in der Welt herum.«
»Und wie …?«
»Wo ich wohne? Na, so schlimm ist das nicht. Vom Zentrum dreißig Minuten. Auf der Autobahn fahren Sie Richtung Hofheim. Nach der Ausfahrt kommt rechts eine BP-Tankstelle, dort geht es ebenfalls rechts ab. Außerdem, in Hofheim weiß jedes Kind, wo wir wohnen. Sie brauchen nur zu fragen. – Kommen Sie? Wirklich? Ehrlich, ich würde mich unheimlich freuen. Und für Sie, das kann ich Ihnen versprechen, wird's auch interessant …«
Er kannte Hofheim, er fand die Ausfahrt, doch in dieser Gegend war er noch nie gewesen. Aber da war die Tankstelle … Rechts, hatte sie gesagt. Und vor allem: »Für Sie, das kann ich Ihnen versprechen, wird's auch interessant …«
Was, in drei Teufels Namen, sollte da ›interessant‹ werden? Er dachte nicht mehr an die langen Haare und nicht mehr an das begeisterte Leuchten in ihren Augen – Unbehagen befiel ihn.
Der Porsche rollte jetzt über eine asphaltierte, gerade Stichstraße, die leicht hangaufwärts führte. Sie mündete in einer Allee hoher, dunkler, schlanker Bäume, die er zunächst für Zypressen hielt, doch was sollten, um Himmels willen, in diesem Klima Zypressen, es waren Lebensbäume, und sie mußten uralt sein. Am Ende der Alleeperspektive holten die Scheinwerfer ein goldenes Schimmern aus der Nacht.
Er fuhr langsamer, dann hielt er an und starrte ungläubig auf den Anblick, der sich ihm bot: Er war vor einem riesigen, geschwungenen, schmiedeeisernen Tor gelandet. Golden leuchteten nicht nur die Speerspitzen daran, vergoldet waren auch die geschwungenen und gewundenen Blumenmuster, die schwere Stäbe verbanden. Donnerwetter …! Und du brauchst auch gar nicht auszusteigen: Irgend jemand in dem Haus dort oben im Park, von dem nur einige helle Lichtrechtecke zu erkennen waren, hatte wohl aufs Knöpfchen gedrückt, denn nun, wie von Geisterhand geführt, schwangen die beiden Torflügel zurück.
Dies war eine Einladung. Und er nahm sie an. Warum auch nicht? Er gab Gas.
Was ihn am Ende der langen, sanften Auffahrtkurve erwartete, war kein Haus, es war ein Schloß. Er hielt und schaltete das Standlicht ein. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern zu stoppen war zweifellos stillos.
Der Bau war in Hufeisenform angelegt. Im Erdgeschoß und im rechten Teil brannte Licht. Eine Freitreppe führte zum Eingang, und rechts und links des Portals waren zwei schwere Leuchten angebracht. Die Tür ging auf, und er hatte plötzlich den Eindruck, in ein Theaterstück versetzt zu sein. Wer trat dort heraus? Der Herr Graf? Aber nein, Papi düst ja um den Erdball … Dann sie – Anja Weiersbach im Reifrock?
Es war eine Frau in schwarzem Kleid mit weißer Schürze.
Nun, auch das war stilgerecht.
Sie kam die Treppe herunter. Er stieg aus.
»Sie sind Herr Dr. Saynfeldt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Fräulein Anja erwartet Sie bereits.«
So, tut sie …? Er blickte fragend. Es geschah selten, daß seine Fassung aus dem Tritt geriet – diese Inszenierung hatte es geschafft. Und sie war noch nicht zu Ende.
»Im Westflügel, Herr Doktor«, lächelte sie. »Gleich dort drüben …«
Gleich dort drüben also? Seine Sohlen knirschten auf fein geharktem Kies. Diesmal gab es zwar keine Freitreppe, doch immerhin eine weitere holzschimmernde, mit Schnitzwerk verzierte Tür, die sich öffnete.
Und da stand sie!
»Ah, da wären wir ja!«
»Ja«, sagte er und holte erst einmal tief Luft, denn er hatte sie nötig, »da bin ich.«
Sie führte ihn ins Haus, und drinnen sah er zunächst sie an, und dann sah er sich sehr sorgfältig um. »Beeindruckend.«
Das war es auch, nicht nur der Raum – auch das Mädchen. Für heute hatte sie Jeans und Jeansjacke im Schrank gelassen, statt dessen trug sie einen arabischen Seidenkaftan in einem wunderschönen, gedämpften Braunrot mit schwarzen Stickereibordüren. Das Haar hing nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher