Die Gutachterin
der zuständige Mann gerade nicht präsent, aber sagen wir morgen früh.« Er lächelte. »Vermutlich werde ich von dem Ergebnis nicht viel erfahren. Leider steht jeder von uns beiden jetzt auf der anderen Seite der Mauer: ich als Ermittler, Sie auf der Seite der Verteidigung.«
»Das muß nicht sein.«
»Nein, das muß es nicht … Nur – ich weiß, wie so was läuft …«
Sie schwieg.
»Ich hätte da nun doch eine kleine Frage, Frau Doktor. Sie richtet sich gewissermaßen an die Expertin.«
»Ob man auf diesem Gebiet jemals Experte werden kann, da habe ich meine Zweifel«, sagte sie vorsichtig. »Um was geht es denn?«
»Na, um was schon? – Sehen Sie, ich habe da einige Befragungen in Ladowskys Umfeld durchgeführt, zum Beispiel bei seinen Kollegen.«
»Da sind Sie mir schon wieder eine Nasenlänge voraus. Das hatte ich auch vor.«
Er grinste schwach. »Es gehört zu meinem Job, ein bißchen schneller zu sein.«
Sie war gespannt. »Und?«
»Ich habe das Thema heute morgen bei der Konferenz vorgetragen, stieß aber bei unserem Oberstaatsanwalt nicht gerade auf Gegenliebe.«
»Saynfeldt!«
»Kennen Sie ihn?«
»O ja«, sagte sie.
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ich glaube, das ist nicht so wichtig … Ihr Thema, was war das?«
Er kratzte sich am Kopf und sah sie nachdenklich an. Sie mochte sein Gesicht. Sie mochte auch die gewisse Melancholie, die aus den vielen Falten und aus den dunklen Augen sprach. »Na schön, Frau Doktor, bei Ladowsky lief's doch immer auf dasselbe hinaus, da sind wir uns wahrscheinlich einig. Ehe der zuschlug, gab es jedesmal eine Kette persönlicher Katastrophen, eine Art Krise, die ihn unter Druck brachte. Nehmen wir den Fall Silke. Acht Tage bevor es passierte, wurde er von dem Freund eines Mädchens verprügelt, mit dem er sich treffen wollte. Gleich anschließend fiel er bei einer Prüfung durch. – Dieses Mal, bei Evi Fellgrub, war es noch viel schlimmer: Im Betrieb wird er von der Sekretärin und den Kollegen ständig gehänselt, dann trennt er sich von seiner Mutter, hat keine Wohnung mehr und wird zudem noch vom Chef gefeuert … Er bleibt also ohne Zuhause, ohne Geld …«
Sie sagte nichts.
Aber sie dachte: Etwas Derartiges hast du die ganze Zeit geahnt. Und du hättest es auch erfahren. – Jetzt hat der Mann von der ›anderen Seite der Mauer‹ dir die Arbeit abgenommen und dich eingeweiht.
»Es ist typisch, Herr Berling. Sie sehen es im Fall Schreiner wie im Fall Diesterweg. Auch da war die Abfolge die gleiche; Sie finden sie bei der Mehrzahl aller sexuellen Gewalttäter. Es ist nicht allein die sogenannte Perversion, es ist weder der Vollmond noch irgendeine rhythmisch auftretende Hormonstörung – ehe die Leute zuschlagen, sind sie meist selbst häufig so unter Druck geraten, daß die Tat die Funktion eines Ventils übernimmt. Es handelt sich fast immer um angeknackste, unsichere, komplexbeladene Menschen. Der brutale Macho oder der Killer aus dem Kino ist ja gar nicht so oft am Zuge. Wirklich gefährlich sind die Leisen, die Stillen, angeknackste, ungefestigte, beinahe zerbrechliche Leute mit ausgeprägter Ich-Schwäche, also einem sehr gering entwickelten Selbstwertgefühl. Die schlucken alles. Dann aber wollen sie's wissen. Dann wollen sie sich und der ganzen Welt zeigen: Mich gibt's. Und wie es mich gibt! Ich beweise es euch.«
Er wiegte leise den Kopf hin und her: »Und Sie meinen, daß sie damit bei Gericht durchkommen? Unter ›unzurechnungsfähig‹ läuft doch so ein Verhalten nicht. Die Sache mit dem mangelnden Selbstwertgefühl ist ja schon beinahe normal in dieser Zeit.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht, Herr Berling. Wir werden ja sehen … Wie auch immer – vielen Dank.«
* * *
Manchmal verwandelte Anja Weiersbachs Fantasie die ganze Lokalredaktion in eine Art schreckliche Fabrikhalle, und alle Leute, die da auf ihren Stühlen hinter ihren Monitoren hockten, die Reporter, die Redakteure, die Sekretärinnen trugen dann komische Namen wie Wang Tu oder Abdulla, wurden zu Koreanern, Pakistanis, Malaien oder Bangladesch-Menschen, zu Figuren jedenfalls, die es sich wortlos und stumm bieten ließen, wie die Hühner in einer Legebatterie zusammengepfercht zu werden. Gackern durften sie, das schon, aber sonst war nichts angesagt als schuften, schuften, schuften …
Vor ihr, auf dem Bord, leuchtete ein grünes Licht auf. Auch so ein Ding! Grün hieß: Der Chef will dich.
Sie stand auf, ignorierte die Häme im Grinsen von Ramsauer, ihrem
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