Die guten Schwestern
Es war ein großer dänischer Vorstehhund in schönen dunkelbraunen Nuancen. Er sprang in kraftvollen Sätzen, der kupierte Schwanz zitterte vor Erregung. Mächtige, riesige Sprünge über den lehmigen Boden, diagonal zur Bahn des Hasen. Der sah aus, als witterte er die neue Gefahr. Er verstärkte seine Anstrengungen, aber ich konnte sehen, daß ihm der angeschossene Lauf weh tat. Er änderte seine Bahn. Alles ging sehr schnell, und trotzdem erschien es mir sehr lang. Ich sah dem Hund nach und zählte die Sekunden und bat Gott innerlich, den Hasen zu retten, ihm Kraft zu geben, damit er schneller als der Wind laufen könnte. Aber auch in diesem Fall hörte der Herr nicht. Der Hund erreichte den Hasen, konnte ihn aber zunächst nicht fangen. Der Hase fiel, kam schwankend wieder auf die Beine, der Hund drehte sich um sich selbst, erhitzt von der Jagd hätte er beinahe den Halt verloren, aber ehe der graue Hase wieder in Fahrt gekommen war, hatte der Hund ihn im Nacken gepackt und zugebissen. Bis zu diesem Morgen wußte ich nicht, daß Hasen eine Stimme haben. Dieser aber gab einen herzzerreißenden Ton von sich, wie das Schreien eines kleinen Kindes, das sich verbrüht hatte. Der Schrei ging in ein seufzendes Wimmern über, dann wurde es still.
Der Jagdhelfer verharrte kurz. Alle standen wie festgenagelt da. Wahrscheinlich nur einige Sekunden, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Dann steckte der Helfer seine Pfeife in den Mund und pfiff den Hund zu sich. Wenn man daran denkt, welche Rolle dieser Tag für unser Leben spielen sollte, dann war der Zwischenfall mit dem Hasen im Vergleich dazu eigentlich ohne Bedeutung. Aber seitdem habe ich immer wieder daran denken müssen, ob ich mit meinen zwölf Jahren vielleicht unbewußt gefühlt hatte, daß der Schmerz des Hasen mein eigenes Schicksal ankündigte. Ich bin Rationalistin, aber das Unbewußte sollte man dennoch nicht unterschätzen. In diesem Schrei lag der Keim zu meinem eigenen äußeren und inneren Schmerz, aber auch die Erlösung durch die Einsicht, welche die Jahre mir bringen würden.
Denn ich kann mich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Die niedrigen grauen Wolken, das welke Gras auf dem Deich, die schwarze nasse und kalte Erde, die Regentropfen, die sich mit den Tränen auf meinen Wangen vermischten, die Treiber und die Jäger, die sich wie zwei Heere gegenüberstanden, und das Echo des flehenden, schmerzerfüllten und angstvollen Schreis des Hasen, das wie ein falsches, gellendes Notenzeichen in der bitteren Herbstluft hing.
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B eim nächsten Treiben waren wir schweigsamer. Der Schrei des Hasen klang noch in unseren Ohren. Nur der Hund sah zufrieden aus, da ihn der Jagdhelfer gelobt hatte, als er die totgebissene Beute apportierte. Aber vielleicht hatte die Sache doch auch die Jäger ein wenig beeindruckt. Jedenfalls waren sie geduldiger und schossen erst, wenn das Wild nahe genug herangekommen war. Ich wollte nicht wehleidig und kleinmädchenhaft wirken und schritt klatschend vorwärts wie die Jungen an meiner Seite, aber einige der größeren, vierzehnjährigen Mädchen hatten Schwierigkeiten, die Tränen zurückzuhalten. Eigentlich sonderbar. Ich weiß nicht, warum es uns mehr unter die Haut ging, wenn ein Hund tötete, als wenn es ein Mensch tat. Weil wir das Tier in Wirklichkeit mit einer Vernunft und einer Güte, einer umgekehrten Menschlichkeit ausstatten, die es gar nicht besitzt?
Die letzte Jagd brachte nur einen einzigen Fasan und einen Hasen ein, dann kriegten wir unsere Würstchen und unsere Limonade. Unsere Stimmung wurde besser, als der Wagen mit den beiden Mädchen vom Gut kam, die den großen, dampfenden Suppentopf brachten und die Körbe mit den Semmeln für die Würstchen, daneben die großen Gläser mit Senf und den selbstgemachten Ketchup in alten, weißen Milchflaschen. Die Jäger standen ein Stück von uns entfernt auf einer Lichtung und bekamen ein paar belegte Brote samt einem Bier und einem Kaffeepunsch. Sie ließen sich die gelbe Orangenlimonade von Valash und die roten Würstchen entgehen, die in der grauen, scharfen Herbstluft so herrlich schmeckten. Alles war herbstlich. Der Geruch von faulendem Laub, der sich mit dem Salzduft vom Meer auf der anderen Seite des Deiches vermischte. Die treibenden Wolken über den gelben Blättern, die noch an den Zweigen hingen. Die großen Laubbäume im Wald warteten nur auf den ersten richtigen Herbststurm. Die ganze Zeit sah es bedrohlich nach Regen aus, aber es blieb
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