Die guten Schwestern
trotzdem Angst, sie konnte so eisig und doch so heftig sein, wenn er erst einmal gereizt war oder wenn wir Mutter mit lärmenden Spielen zum Wahnsinn getrieben hatten. Fritz und ich versuchten also, die Tränen zurückzuhalten. So gut es eben ging. Wir wischten uns den Schnodder und die Tränen ab und schluchzten so wenig wie möglich, aber er schien uns gar nicht mehr zu bemerken, Hauptsache, wir waren still. Er fuhr nur mit seinem weißen Steingesicht und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er roch nach Bier und Schnaps und ein wenig nach Rasierwasser, aber er war nicht betrunken. Er schien einfach in einer anderen Welt zu sein. Als wir vor der Bäckerei vorfuhren, erschien Mutter mit Teddy an der Hand auf der Treppe. Es war eine breite Treppe, die zur Haustür hinaufführte. Es war so schön, dort im Sommer mit Puppen zu spielen, wenn die Sonne auf die Bäckerei und das Dorf schien. Mutter sah ihn erst verwundert an, dann erbleichte auch sie.
»Was ist denn los, J0rgen? Ist was mit den Kindern?« fragte sie.
Aber dann entdeckte sie uns und atmete erleichtert auf. Sie bemerkte unsere verweinten Augen, und ich konnte sehen, daß sie erleichtert und beunruhigt zugleich war.
»Geht auf eure Zimmer!« sagte Vater. »Und nehmt Teddy mit.«
»Jørgen…?« sagte Mutter. »Was ist denn passiert?«
»Tut, was ich euch gesagt habe!«
Ich nahm Fritz an die eine Hand und den heulenden Teddy, der Mutter nicht loslassen wollte, an die andere und rannte, während mir das Weinen im Hals würgte, in mein Zimmer im ersten Stock. Hier setzte ich meine Brüder aufs Bett, holte ein Buch und fing an vorzulesen, so daß Teddys Weinen rasch nachließ. Er weinte leicht, war aber auch schnell wieder zu beruhigen. Obwohl ich laut las, konnte ich ihre Stimmen unten im Wohnzimmer hören. Erst leise, dann lauter, dann wütend, schließlich hörte ich meine Mutter weinen und die Stimme meines Vaters, die zornig und verzweifelt war. So als könnte er auch weinen, aber das taten Männer ja nicht. Ich glaube nicht, daß ich jemals wieder in meinem Leben eine solche Angst gehabt habe. Ich war felsenfest davon überzeugt, daß entweder mein Vater oder meine Mutter jetzt sterben müßten. Warum wußte ich nicht. Aber so ging es mir. Ich las und las, ohne darauf zu achten, was die Worte eigentlich bedeuteten. Aber durch das Lesen hielt ich das Weinen von mir fern. Die Angst nicht. Die knabberte wie ein giftiger Parasit in meinem Bauch.
Nach einer Weile kam meine Mutter. Sie hatte geweint, aber sie hatte sich geschminkt, um es zu verbergen. Ihre Augen waren geschwollen. Sie sah uns einen Augenblick lang von der Tür aus an, und ich hörte auf zu lesen. Wir hatten uns auf dem Bett eng aneinandergekuschelt. Fritz und ich hatten immer noch die dicken Pullover an, aber wir schwitzten nicht. Mir war eher kalt. Nur die Stiefel hatten wir reflexartig im Flur ausgezogen. Sie kam zu uns und umarmte uns ohne ein Wort. Ihre Tränen begannen wieder zu laufen, still und ruhig rannen sie ihr die Wangen hinunter. Das ließ Teddy in Geschrei ausbrechen, und endlich konnten Fritz und ich uns gehenlassen und uns an Mutters Schulter und in ihre feine Schürze einfach ausweinen, während wir uns an sie drückten.
»Was hat Vater denn?« sagte ich schluchzend nach einer Weile.
»Später, kleine Irma. Später!«
»Ja aber, was ist denn?«
»Später. Es wird sich schon alles wieder einrenken, meine Kleine«, sagte sie mit einer sonderbar belegten Stimme, und ich glaubte ihr kein Wort. Deshalb hörte ich auf zu weinen. Daß die Erwachsenen glaubten, ich sei immer noch ein kleines Mädchen ohne Verstand und ohne Augen im Kopf, das war mir klar. Aber ich fühlte mich verraten, weil es weder Vater noch Mutter für nötig befanden, mir zu erzählen, warum der Alltag so plötzlich auf den Kopf gestellt wurde. Erst viele Jahre später erfuhr ich von meiner Mutter die ganze Geschichte. Aber in der Zeit nach der Treibjagd konnte ich durch die Andeutungen meiner Mutter und meines Vaters und die Veränderungen in der Bäckerei die meisten Teilchen des Puzzlespiels zusammenfügen, so daß mir die Geschichte schon vor unserem Umzug klar vor Augen stand.
17
D er nächste Tag fing an, als wäre nichts geschehen. So daß ich einen kurzen Augenblick lang hoffte, ich hätte das ganze nur geträumt. Ich erwachte wie immer, wenn ich Vaters Schritte auf der Treppe hörte. Er stand immer sehr früh auf und stieg die Treppe hinunter, um zur Bäckerei hinüberzugehen und mit
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