Die guten Schwestern
hätte diesen Nachmittag mit Teddy gern woanders als im Westgefängnis zugebracht, aber ich war zugleich froh, daß die Zeit um war. Ich war nicht in der Stimmung, die Familiengeheimnisse mit den großen Lauschern des Nachrichtendienstes zu teilen.
Wir standen beide auf und umarmten uns, und Teddy flüsterte mir ins Ohr:
»Und was hältst du nun von unserem biologischen Vater, Schwesterchen?«
»Was meinst du?«
»Nazi, Bigamist, Verräter seines Landes und seiner Familie. Mörder vielleicht. Wer war die Leiche im Hamburger Hafen mit Vaters Paß? Hast du daran mal gedacht? Das hat doch was zu bedeuten.«
Ich spürte wieder, wie der Zorn in mir hochkam, aber ich wollte nicht im Unfrieden von meinem Bruder scheiden. Also beachtete ich die Provokation nicht und sagte bloß:
»Das verstehst du nicht, Teddy. Eines Tages wirst du schon noch eine Erklärung bekommen. Dann wirst du es verstehen. Aber nicht hier und jetzt.«
»Okay, Schwesterchen«, sagte er und drückte mich an sich, obwohl ihm der Rücken weh tat, wie ich merkte. »Paß auf dich auf. Wir freuen uns auf den Tag, an dem du entlassen wirst.«
»Das tue ich auch. Grüß Fritz!«
»Bald.«
»Und ruf mal bei Mutter an!«
»Sie begreift nichts.«
»Sie erkennt deine Stimme. Rede vom Wetter. Es ist egal, was du sagst. Sie will einfach gern unsere Stimmen hören.«
»Woher weißt du das denn? Ihr Kopf ist ein einziger Kalksteinbruch.«
Ich trat einen Schritt zurück und lachte. Er hatte mich schon immer zum Lachen bringen können.
»Also, Teddy. Nun reiß’ dich mal zusammen!«
»Komm bald raus, Schwesterchen. Wir vermissen dich.«
»Es dauert nicht mehr lange. Viele Grüße auch an Janne.«
»Mach ich, Schwesterchen. Mach ich.«
Er ging, und ich wurde in meine Zelle geführt, aber seltsamerweise nicht zum Verhör. Vielleicht mußten sie erst das Gespräch mit meinem Bruder entschlüsseln und analysieren, ehe sie wieder anfingen, mich mit Fragen zu traktieren, die sich mehr und mehr im Kreise drehten.
Ich ging auf meinen sieben Quadratmetern auf und ab und guckte auf die gelben Wände und das kleine Fenster. Das Licht draußen war mit Blau vermischt, als ob die Aprilsonne langsam an Macht gewänne. Es war ja auch bald Ostern. Ich setzte mich auf die Pritsche, stand aber gleich wieder auf und versuchte noch einmal, zurückzudenken und mich zu erinnern.
Die Wahrheit ist, daß ich aus der Zeit, nachdem wir das Dorf auf Fünen wie Diebe in der Nacht in dem rumpelnden Möbelwagen verlassen hatten, nur sehr wenig in Erinnerung behalten habe. Es sind ein paar Jahre, die für mich im dunkel liegen. Ein Dunkel, das nur von einzelnen Erinnerungsfetzen durchbrochen wird, aber sonst nur von einem dumpfen und ewig schmerzenden Gefühl des Verlusts beherrscht wird.
19
M ein Problem war, daß ich mich von meinem Vater verraten fühlte, ihn zugleich aber so stark vermißte, daß mein pubertierendes Mädchenherz es einfach nicht verkraftete. Ich wollte nicht akzeptieren, daß er uns freiwillig verlassen hatte. Da mußte etwas anderes dahinterstecken, eine geheime und bösartige Verschwörung, in die mich die Erwachsenen nicht einweihen wollten. Es war, als herrschte ewiges Dunkel in meiner Seele. Ich glaube nicht, daß meine Mutter von meinem Zustand viel mitbekam. Ich glaube nicht, daß sie verstand, wie unglücklich ich war. Falls doch, hat sie es jedenfalls gut verborgen. Sie konnte Hysterie nicht akzeptieren, wie sie sagte. Sie hatte genug damit zu tun, uns in der kleinen Dreizimmerwohnung einer hübschen jütischen Provinzstadt unterzubringen und in diesen genügsamen Fünfzigern, in denen nach wie vor Knappheit herrschte, einen ordentlichen Alltag für uns zu organisieren. Geld war rar. Auch damals war es nicht einfach, als alleinstehende Mutter drei minderjährige Kinder durchzubringen.
Aber Mutter war nicht dumm, und sie hatte die mittlere Reife. Das verschaffte ihr eine Stelle als Gehilfin in einem Anwaltsbüro, aber es dauerte nicht lange, da machte sie sich durch ihr freundliches Lächeln und ihren klugen Kopf bei Rechtsanwalt Kelstrup unentbehrlich. Er war ein schwergewichtiger, rosiger Witwer Anfang Sechzig, der es liebte, im gutbürgerlichen Restaurant im Haus des Handwerks und der Industrie ein umfangreiches Mittagessen einzunehmen, während ein Bevollmächtigter die dringendsten Fälle für ihn erledigte. Und Kelstrup war kein Wichtigtuer, der sich groß für Zeugnisse interessierte. Also wurde Mutter bald Sekretärin, Faktotum und eine
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