Die guten Schwestern
Art Gesprächspartnerin, mit der er Ideen durchspielen konnte. Viele gab es nicht davon, denn es war keine große Kanzlei. Meist handelte es sich um Grundstücksverkäufe, ein bißchen Inkasso bei kleinen Leuten, Erbsachen und Pflichtverteidigung von Kleinkriminellen. Erst später wurde mir klar, daß er ebenfalls auf der falschen Seite gestanden hatte und wegen Kollaboration sogar ein halbes Jahr im Faarhus-Lager zugebracht hat. Der Rest war auf Bewährung, und seine Zulassung hatte er auch wiederbekommen. Der letzte deutsche Flüchtling war längst nach Hause geschickt oder wie Vieh davongejagt worden, und die letzte Hinrichtung wegen Landesverrats vollstreckt, und die meisten in der Stadt waren der Meinung, daß man Anwalt Kelstrup doch immer gekannt habe und er nur ein kleiner Fisch sei, außerdem war er billiger als die anderen, also, mein Gott! Mehr war in dieser Sache wohl nicht zu sagen. Es gab ja so viele, die von den Gedanken eines neuen Europas angesteckt worden waren, damals, als alles anders aussah. Hauptsache, er dachte am 4. Mai an die Kerze im Fenster, dann war er wie alle anderen auch.
Mutter wurde ein wenig unter die Arme gegriffen. Von Namenlosen, aber auch von Kelstrup. Es war kein Zufall, daß er ihr einen Job gab, obwohl er damals eigentlich nicht genug Klienten hatte. Aber Mutter verschaffte ihm welche. Sie war überall wohlgelitten und flößte Vertrauen ein und brachte Kelstrups Kalender in Ordnung, so daß er seine Termine pünktlich einhielt. Daran hatte es wegen seiner Vorliebe für Essen und Trinken immer ein wenig gehapert. Als Jugendliche verstand ich die Zusammenhänge nicht. Die habe ich erst später durchschaut. Daß man diskret versuchte, sich gegenseitig zu helfen, obwohl man die Ideologie längst aufgegeben hatte. Eine kleine Gefälligkeit hier, eine kleine Gefälligkeit da. So funktionierte ganz Dänemark. So funktioniert mein Vaterland wohl immer noch.
Mutter lebte sich ein. Um Teddy kümmerte sich eine freundliche Dame, die Frau Hansen hieß und die der Anwalt beschafft hatte, und Fritz fand einen guten Freund, mit dem er ständig zusammen war. Die ganze Familie verfiel bald in einen alltäglichen Rhythmus, der sich von dem der anderen nicht unterschied. Sich nicht zu unterscheiden war von herausragender Bedeutung. Die gleichen Möbel und Gardinen zu haben wie andere Dänen. Sein Haus und seine Kinder ordentlich und sauber zu halten. Den bürgerlichen Normen der schweigenden Mehrheit zu folgen. Nicht zu glauben, man sei jemand. Sich nicht hervorzutun oder sich wichtig zu machen.
In der Schule sagten wir nur, unser Vater sei tot, und deuteten an, er sei im Kampf für Dänemarks Freiheit gefallen. Wenn die Kinder Krieg spielten, war Fritz genausooft Widerstandskämpfer wie Deutscher. Darin mußte man sich abwechseln. Im übrigen spielten sie, beeinflußt von den Western, die sie am Sonntagnachmittag im Kino sahen, zunehmend Cowboy und Indianer. Jedenfalls waren Mutter und Vater nicht geschieden. Darauf legten wir großen Wert.
Recht bald verloren die Leute das Interesse daran, warum wir in ihre Stadt gezogen waren. Die Gesellschaft befand sich im Aufbruch. Vielleicht war es in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre noch nicht so deutlich, aber die alte Gesellschaft ging ihrem Ende entgegen, und eine neue stand vor der Tür. Als Fritz vierzehn war und zu seiner Erleichterung nach der siebten Klasse endlich die Schule verlassen konnte, besorgte ihm Anwalt Kelstrup eine Lehrstelle bei einem Bäcker im Ort. Fritz war glücklich mit seiner unkomplizierten Arbeit und interessierte sich vor allem dafür, ob er mit seinem pomadisierten, zurückgekämmten Haar so aussah wie James Dean.
Teddy war noch zu klein, um etwas zu verstehen. Mutter erwähnte Vater nur ein einziges Mal, das war an dem Tag, nachdem sie die Stelle bei Anwalt Kelstrup bekommen hatte. Sie versammelte uns am Küchentisch und sagte, nun müßten wir hier unser Leben gestalten. Uns sei ein neuer Anfang geschenkt worden, und aller Anfang sei schwer, aber es werde schon gehen. Wir sollten keinem etwas von unserer Vergangenheit erzählen, weder woher wir kamen noch von Vater. Der Krieg sei vorbei, und kein normaler Mensch interessiere sich mehr dafür, obwohl die Zeitungen nach wie vor über den Widerstandskampf und die fünf verfluchten Jahre schrieben. Normale Menschen müßten sich mit anderen Dingen beschäftigen, und nun seien wir ordentliche Leute wie andere auch. Und das sei gut so und darüber sollten wir uns
Weitere Kostenlose Bücher