Die guten Schwestern
Nachrichtenwesen ist an der objektiven Wahrheit nicht interessiert. Es braucht einen Sündenbock. Und der soll nun ich sein.
Toftlund war ein paar Tage weg. Als er wieder da war, fragte er mich über meinen Vater aus. Ich teilte ihm mit, daß ihn das nichts angehe. Es sei eine persönliche, private Sache. Seine Fragen haben mich beunruhigt. Er stellte auch Fragen über Dich. Es ist ein Wissen, das er eigentlich nicht haben dürfte. Und es tut wie immer weh, wenn dieser Teil meiner Vergangenheit hervorgeholt wird. Er antwortete, ihn gehe alles etwas an. Werde man wegen eines schweren Verbrechens angeklagt, sei nichts mehr privat. Weder für den Angeklagten noch seine Familienmitglieder oder seine Freunde. Ein Verbrechen gehe nicht nur Täter und Opfer etwas an. Die Geheimnisse und Verdrängungen der Nächsten seien nicht länger unantastbar. Selbst zufällige Bekannte würden involviert, ihre Erklärungen würden aufgeschrieben, ihre Geheimnisse enthüllt. Bei einer Untersuchung werde ein Menschenleben freigelegt, so wie ein Chirurg eine Geschwulst freilegt, damit er das kranke Gewebe herausschneiden kann. Das war das Bild, das er gebrauchte. Sogar seine Metaphern sind schlecht und stinken nach Männlichkeitswahn.
Ich teilte ihm mit, daß ich ihm nichts zu sagen hätte. Mein Vater habe uns 1953 verlassen, kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag, und sei im Jahr darauf für tot erklärt worden. Das war der Begriff der Behörden: für tot erklärt. Und genau diese Wortwahl ließ mich hoffen, daß er zurückkehren würde. Meine Mutter ging 1955 eine neue Ehe ein. Mein Stiefvater adoptierte Teddy, das wollten Fritz und ich nicht, wir weinten zum Steinerweichen, und unsere Mutter beugte sich unserem Wunsch.
Selbstredend hat die Polizei auch Mutter verhört, aber ihre Senilität ist so weit fortgeschritten, daß ihre Aussagen unbrauchbar sind. Das konnte ich aus Toftlunds Reaktion ersehen. Sie widerspricht sich ständig selbst und weiß nicht, ob sie neunzig oder zwölf Jahre alt ist. Einmal sagt sie, Vater mache einen Spaziergang oder sei in der Backstube. Ein andermal, sie habe nie einen Mann dieses Namens gekannt und ihr Mann sei vor fünf Jahren gestorben. Daß beide Ehemänner den guten, alten dänischen Nachnamen Pedersen trugen, macht die Angelegenheit nicht gerade einfacher. Den Zwischennamen Nikolaj erhielt nur Teddy von unserem Stiefvater. Mutters Gedächtnis ist wie eines dieser großen Becken mit den kleinen bunten Plastikbällen, in denen die Kinder glücklich herumhopsen, während die Eltern einkaufen oder zu Mittag essen. Genauso springen ihre Gedächtnisbälle ohne System oder Ordnung in dem verkalkten Hirn hin und her.
Heute hat mich Teddy besucht. Er hat mich umarmt und auf dem Tisch, an dem wir miteinander sprechen dürfen, meine Hand gehalten. Das war der wöchentliche Privatbesuch, den die Einzelhaft mir zugesteht. Ein Beamter sitzt auf einem hochlehnigen Stuhl und wohnt dem Gespräch bei, das sicherlich auch mitgeschnitten wird. Ein Gespräch unter solchen Bedingungen kann nicht sehr tief gehen, aber es ist besser als gar nichts. Sonst gibt es nur die Quälgeister und die paar Male am Tag, wo ich mir im Gefängnishof die Beine vertreten darf, freilich immer allein. Ich empfinde mich selbst als gesetzestreue Bürgerin, und trotzdem träume ich davon, meinen Hofgang gemeinsam mit den anderen Insassen machen zu dürfen, mit Mördern, Vergewaltigern und Räubern. Es wäre wie ein unerwartetes Geschenk. Es wäre eine Freude, sein Essen gemeinsam mit anderen einnehmen zu dürfen, auch wenn es sich dabei um Schwerverbrecher handelte. So sehr sehne ich mich nach menschlicher Gesellschaft.
Teddy sah ein wenig mitgenommen aus. Er sagte, er habe Rückenschmerzen und eine Zahnfleischentzündung. Das Älterwerden habe eben seinen Preis. Das fand ich nicht sehr lustig. Die übliche männliche Wehleidigkeit. Ich bin acht Jahre älter als Teddy und körperlich und geistig auf der Höhe. Ich fühle mich nicht so alt, aber ich passe auf mich auf. Das hat Teddy nie getan, und sein Wohlleben fängt an, in seinem Gesicht und an seinem Körper Spuren zu hinterlassen. Seinen gewohnten Charme hat er behalten. Er erzählte mir Anekdoten aus dem akademischen Leben: Wer Forschungsgelder erhalten hat, wer seinen Doktor macht, wer sich im Erfolg tüchtiger Doktoranden sonnen und seinen Namen unter Veröffentlichungen setzen darf, wer in die Zeitung kommt, wer vom Fernsehen interviewt wird, welche Kollegen den wahnwitzigen
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