Die guten Schwestern
freuen. Fritz sagte wie immer nichts, aber ich fragte nach Vater, und Mutter nahm meine Hand und sagte:
»Ich will ehrlich zu dir sein, mein Mädchen. Ich weiß es nicht. Er ist schon einmal fort gewesen, aber da ist er zurückgekommen.«
»Kommt er diesmal auch zurück, Mutter?« fragte ich und fühlte, wie mir die Tränen in die Augen schossen.
»Ich glaube, damit solltest du nicht allzufest rechnen, Irmalein. Ich glaube, du solltest deinen Vater als tot betrachten.«
»Er ist nicht tot. Er kommt wieder nach Hause!« schrie ich und rannte vom Tisch weg und warf mich weinend auf mein Bett, und als sie kam und mich trösten wollte, hielt ich meiner Mutter vor, unseren Vater zu verraten. Sie strich mir übers Haar, und das machte mich froh und wütend zugleich. Sie beruhigte mich mit tröstenden Lauten, aber sie sagte nichts. Ich glaube, sie war ebenso verzweifelt wie ich, denn ihr erster Gedanke war natürlich, sich der Welt des Mannes unterzuordnen, ihren Kopf zu beugen und die Umstände anzunehmen.
Anscheinend war ich die einzige, deren Herz vor Sehnsucht und Verlassenheit krank war und die hoffte, noch einmal Vaters Pfeifen auf der Treppe zu hören, diesmal auf dem Weg nach oben, um an unserer schönen braunen Wohnungstür zu klingeln. Man könnte den Eindruck gewinnen, ich würde mich an vieles erinnern, aber das tue ich genau genommen nicht. Eigentlich erinnere ich mich nur an die Sehnsucht und eine tiefe Einsamkeit, weil ich mich nicht an andere Menschen band. Ich hatte weder Kameraden noch Freundinnen. Ich gehörte nicht zu den Kicher- und Tuschelgrüppchen, die Arm in Arm über den Schulhof stolzierten und so taten, als sähen sie die Jungen nicht. Ich wurde auch nicht gehänselt. Man tolerierte mich als Eigenbrötlerin, die nicht mitspielen und später auch nicht über Jungs reden wollte, sondern immer nur las und langweilig war. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie meine Mutter auf dem Rathaus mit dem Oberlehrer verheiratet wurde, und kaum daran, wie wir in sein geräumiges Lehrerhaus zogen. Ich erinnere mich an mein Zimmer, aber da bin ich schon sechzehn und dabei, das Dunkel hinter mir zu lassen. Die Dunkelheit, das sind die Jahre von dreizehn bis achtzehn, von denen nur Erinnerungsfetzen übriggeblieben sind, und ich bin mir nicht sicher, ob dies Dinge sind, die ich noch weiß, oder ob sie mir erzählt wurden. Erst viel später, als ich schon erwachsen war, hat mir Mutter erzählt, daß sie sich schreckliche Sorgen um mich gemacht hat. Ich schrumpfte ein und wurde so dünn, daß sie ernsthaft um meine Gesundheit fürchtete. Ich ließ mir auch mit meiner Menstruation zu lange Zeit, meinten Mutter und der Arzt. Der Arzt verschrieb mir Schlagsahne und regelmäßige Lichtbehandlungen im Krankenhaus. Du hättest mit mir über Vater sprechen können, habe ich später zu ihr gesagt, aber das verletzte sie nur, und sie entgegnete, daß sie keine Zeit mehr auf diesen Mann verschwenden wolle, sie habe überdies genug damit zu tun, für Essen und Kleidung für drei Kinder zu sorgen. Später habe sie einen neuen Mann bekommen, der zu ihr und den Kindern gut gewesen sei, weshalb es keinen Grund gegeben habe, die Vergangenheit wieder auszugraben. Dabei komme nur Schmutz hoch. Nein, sie wollte nicht von ihm sprechen. Sie schien seine Existenz geradezu leugnen zu wollen. Sie erwartete von uns, daß wir den Oberlehrer Vater nannten. Das tat Fritz, weil er sich Ärger ersparen wollte, und Teddy tat es, weil er ihn liebte, aber ich weigerte mich rundheraus, obwohl mir das die einzige Ohrfeige einbrachte, die mir meine Mutter je gegeben hat. Als sie begriff, daß ich nicht nachgeben würde, ließ sie mich zufrieden. Vielleicht auch, weil sich mein Stiefvater offenkundig ohne Probleme damit abfand, daß ich ihn beim Vornamen rief. Obwohl ich heute glaube, daß es ihn verletzt hat. Er hat spät geheiratet und war der Meinung, er habe Mutters Kinder wie seine eigenen aufgenommen. Zusammen hatten sie keine Kinder. Ich weiß nicht, ob es zu spät war oder meine Mutter nicht wollte oder mein Stiefvater vielleicht nicht konnte.
Ich weiß nicht, warum Mutter den Oberlehrer heiratete. Er war sehr verliebt in sie. Das sah jeder. Er betete sie an und tat alles für sie. Mutter mochte ihn wegen seiner Geduld und Güte und seiner uneigennützigen Liebe, aber sie war nicht im geringsten verliebt. Das erkannte ich genau. Vielleicht liebte sie ihn schließlich auch, zumindest war sie ihm ergeben, aber Leidenschaft hat
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