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Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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Ort, der ganz deine eigene Domäne ist. Wo du eine freie Frau bist.
    In diesem Zimmer versuchte ich, das Verhalten Dänemarks während der deutschen Besatzungszeit zu verstehen. In der Bibliothek war da nicht sehr viel zu holen. Die schaffte meistens nur neue Bücher über die tapferen Freiheitskämpfer und den dänischen Widerstand in den fünf dunklen Jahren an, in denen das Volk zusammenstand. Regalmeter um Regalmeter. Über die andere Seite, die zusammenarbeitete, die auf deutscher Seite teilnahm, gab es praktisch nichts. Aber zwischen den Zeilen, durch die Vertuschungen und die manipulierten Berichte hindurch erkannte ich die Heuchelei und die falsche Darstellung der Jahre von 1940 bis 1945. Ich begriff, daß es sich hier um eine kollektive Erinnerungsverschiebung und den gemeinsamen Entschluß handelte, sich an den Mythos zu halten. Die Wahrheit wurde verschwiegen, es wurden nur Legenden geschaffen. Es wurden Opfer gefunden und Sündenböcke, und einer von ihnen war mein Vater. Daß der Nationalsozialismus eine grausame Ideologie war, sah ich unmittelbar und mit dem Herzen und dem Verstand ein, und ich hätte so gerne meinen Vater gefragt, warum er dieser Ideologie gedient hatte, aber das konnte ich nicht mehr. Ich bezweifelte nie den Mord an sechs Millionen Juden, aber ich verstand zugleich die nationalsozialistische Vorstellung vom Übermenschen. Daß manche Menschen dazu geboren sind, die große Masse zu führen, die geformt werden mußte, weil sie es nicht besser wußte. Und ich verstand, daß die Doppelmoral der bürgerlichen, sogenannten demokratischen Gesellschaft und ihre zynische Ausnutzung der gewöhnlichen menschlichen Naivität noch schlimmer waren als der Nationalsozialismus. Ich weiß nicht, ob ich meine Gedanken damals mit solchen Worten ausdrücken konnte, aber so empfand ich es. Ich war von meinem Vater verraten, der von seiner Gesellschaft verraten und deshalb zu seinem Verhalten gezwungen worden war. Sie sagten, er habe es aus freiem Willen getan. Sie wollten uns glauben machen, des Menschen Wahl sei frei. Ich empfand die Wahrheit anders, nämlich daß er wie eine gemeine Marionette seinem unausweichlichen Schicksal entgegengeführt worden war.
    Ich war also reif, als ich dem Mann begegnete, dem ich zu verdanken habe, daß ich meiner selbst, als Frau und als Mensch, bewußt wurde. Es war in der Abitursklasse. Es war zu Beginn des Frühjahrs, kurz bevor die Prüfungsvorbereitungen anfingen. Ich stand, wie so oft, in der Bibliothek und suchte einen neuen Roman über die Besatzungszeit, von dem ich in der Zeitung gelesen hatte. Im Grunde hatte ich jetzt gar keine Zeit für Romane, da das Abitur vor der Tür stand, aber ich konnte es nicht lassen. Das Buch war im Jahr zuvor erschienen und hatte nun den Weg in die öffentliche Bibliothek gefunden.
    Ich hatte ihn sofort entdeckt und schielte zu ihm hinüber. Er war ein junger Mann Anfang Zwanzig. Er sah anders aus als andere junge Männer, sein helles Haar war lang und reichte fast über die Ohren. Er benutzte keine Pomade. Es sah weich und schön aus. Er hatte eine braune Cordhose und einen dicken Pullover an. Er war groß und dünn, hatte klare blaue Augen und eine gewölbte Stirn. Ein bißchen ähnelte er dem Dichter Jens August Schade, dessen Porträt ich in der Zeitung gesehen hatte. Sie hatten die gleiche kräftige Nase, aber E.s Kinn war männlicher und hatte ein Grübchen. Fast wie das eines Filmstars. Ich konnte das Grübchen durch den kurzgeschnittenen Vollbart hindurch erkennen. Es war ungewöhnlich, einen Mann mit Vollbart zu sehen. Er hatte eine sonderbar starke Ausstrahlung. Eine erotische Kraft, die einige Menschen vielleicht ohne ihr Wissen besitzen. Ich war noch Jungfrau und kannte Sexualität als Sehnsucht und als Hitze, die zu den unpassendsten Zeiten in meinem Schoß aufstieg. Über so etwas sprachen anständige Menschen nicht, weder zu Hause noch in der Schule. Es wirkte schmutzig und deplaziert wie die kichernden dummen Bemerkungen der Jungs und die derben Zeichnungen, an denen sich die Schüler aus den unteren Klassen ergötzten. Ich kannte die Sehnsucht meines Körpers, obwohl ich sie nicht verstand und Angst vor ihr hatte, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß sich ein gutaussehender Mann für mich interessieren könnte. Ich war klein und dünn und fühlte mich häßlich und irgendwie verkehrt. E. sagte später, nichts könne verkehrter sein. Ich hätte die schönsten sanften, unglücklichen und zugleich intensiven

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