Die guten Schwestern
für mich war, konnte er ja nicht wissen. An Einzelheiten unseres Gesprächs kann ich mich nicht erinnern, nur daß es nie ins Stocken geriet. Wir sprachen über Bücher, den kommenden Frühling, meine Lehrer, die ich mit einem Witz beschrieb, der für mich selbst überraschend war, und über das anstehende Abitur. Ein ganz normales Gespräch, wie ich es noch nie mit einem jungen Mann geführt hatte. Er bestellte noch einen Kaffee und begleitete mich dann nach Hause. An der Gartenpforte fragte er mich:
»Haben Sie Lust, mit mir ins Kino zu gehen?«
»Gern.«
»Wie wär’s mit heute abend?«
»Ich muß meine Eltern fragen.«
»Dann fragen wir sie jetzt.«
»Sie sind nicht zu Hause.«
»Natürlich darfst du, mein Mädchen«, sagte er mit verstellter tiefer Stimme, und ich mußte wieder lachen und merkte, daß ich rot wurde.
»Ich weiß ja nicht mal, wie du heißt.«
Er nannte seinen Namen und fragte:
»Und wie heißt du?«
»Irma.«
»Das paßt zu dir.«
Damit duzten wir uns. Er gab mir die Hand und ging, und ich schaute ihm mit klopfendem Herzen nach. Er wollte mich um halb sieben abholen.
Zu meiner großen Überraschung bekam ich ohne Schwierigkeiten die Erlaubnis, ins Kino zu gehen. Natürlich fragten sie mich, wer der junge Mann sei, und ich sagte, ein Student, den ich hin und wieder in der Bibliothek getroffen hätte. Meine Mutter und mein Stiefvater sahen sogar erleichtert aus, und mein Stiefvater steckte mir mit den Worten, es sei ja auch langsam Zeit, daß ein so schönes Mädchen einen Kavalier fände, ein ganzes Fünfkronenstück zu. Mutter schüttelte den Kopf über ihn, obwohl sie recht glücklich aussah, ermahnte mich aber, früh nach Hause zu kommen, damit ich am nächsten Morgen ausgeschlafen in die Schule käme. Es war klar, daß sie erleichtert waren, daß ich mich endlich wie ein normales Mädchen benahm, das wie alle anderen auch ins Kino eingeladen wurde.
Als E. mich zur frühen Abendvorstellung abholte, standen sie beide am Wohnzimmerfenster. Er hatte sich umgezogen und trug ein Tweedsakko, eine feine graue Hose und sogar einen Schlips. Ich hatte ein geblümtes Kleid angezogen, dazu einen breiten Gürtel wie Ghita Narby und hatte die Haare zum Pferdeschwanz hochgebunden. E. nickte meiner Mutter und meinem Stiefvater am Fenster zu und bot mir seinen Arm, und dann gingen wir ins Kino, als ob dies nicht das erste Mal wäre, sondern ein Rendezvous von vielen. Als so natürlich empfand ich seine Anwesenheit. Ich war glücklich und zugleich furchtbar ängstlich. Ich wußte nicht, ob ich alles nur träumte und im nächsten Moment in der gewohnten Leere und Einsamkeit aufwachen würde.
Ich weiß nicht mehr, welchen Film wir uns anschauten. Ich kann mich nur noch an seine sanfte, warme und trockene Hand erinnern, die die meine ergriff, als sich die Dunkelheit auf das gutgefüllte Kino herabsenkte. Hinterher gingen wir durch dunkle, regennasse Straßen, die im Schein der Laternen so poetisch funkelten, daß ich dachte, nur ein großer Dichter könne den Zauber dieses Abends beschreiben. Ich war mir sicher, daß Frank Jæger diese Stimmung hätte einfangen können.
Wir blieben im Dunkel zwischen zwei Straßenlaternen stehen, und er drehte mich zu sich um. Ich mußte mich auf die Zehenspitzen stellen, um seine Lippen zu erreichen. Erst küßte er mich vorsichtig, dann mit der Zunge, und in meinem Unterleib verbreitete sich Wärme. Ich hatte noch nie einen Jungen geküßt. Ich dachte, so etwas müsse man lernen, aber es war gar nicht schwer. Er wußte alles über das Küssen, man mußte einfach nur mitmachen. Wir schafften es, uns viele Male zu küssen, bevor wir zu Hause ankamen. Es war eines der beunruhigendsten Gefühle, die ich je empfunden hatte. Natürlich brannte im Wohnzimmer Licht. Der Oberlehrer und meine Mutter waren Silhouetten hinter dem Rollo. E. spielte seine Karten von Anfang an klug. Auf diese Weise würden die Autoritäten nie Verdacht schöpfen. Er brachte mich pünktlich nach Hause und gab mir beim Abschied an der weiß gestrichenen Gartenpforte unter dem Licht der Straßenlaterne nur einen Kuß auf die Wange, dabei wußte er genau, daß ich den Geschmack seiner Zunge und seiner Lippen mit ins Haus nahm. Und noch lange seine Hand auf meiner Brust fühlen würde.
Schon von Beginn an verstand er es, das Doppelleben eines Agenten zu führen und dem Feind niemals seine wahre Identität zu enthüllen. Nach außen hin das eine Leben, das sich den überholten Ideen des
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