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Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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unmenschlichen Ausbeutung profitieren und den höchsten Lebensstandard haben.
    Und dann gab es da noch unser gemeinsames privates Geheimnis vom Ende des Jahres 1960, als ich in den Weihnachtsferien zu Hause war, weil ich das Haus für mich allein haben würde. Fritz und Teddy waren mit dem Oberlehrer und Mutter zum Bruder des Oberlehrers nach Tondern gefahren. Sie fuhren bereits am 22. Dezember. Das Weihnachtswetter war mild und regnerisch, wir hielten uns meistens im Hause auf. Wir kochten zusammen, sprachen miteinander, tranken Zitronenlimo mit Schuß, hörten Musik, tanzten, experimentierten und genossen es, keine Rücksicht auf die Nachbarn nehmen zu müssen wie in Kopenhagen, wo wir nur durch dünne Wände von anderen Menschen getrennt waren. Es war eine physische und psychische Befriedigung, unsere Körper zu gebrauchen und zu merken, daß sie so natürlich zusammenspielten wie zwei fein aufeinander abgestimmte Instrumente. Die schweren Gardinen waren vorgezogen, die Türen verschlossen. Die Heizkörper hatten wir auf höchste Stufe gestellt, und wir hatten so wenig an wie nur möglich, und ich war überglücklich. Ich habe ihn nie gefragt, was er machte, wenn er nicht mit mir zusammen war, und ob er andere Mädchen kannte. Er fragte mich auch nicht, aber ich wußte, daß er die schreckliche Schlange der Eifersucht besser unter Kontrolle hatte als ich. Ich versuchte, das Gefühl von mir fernzuhalten, aber der Gedanke, daß ich ihn womöglich mit anderen teilte, tat weh. Wenn ich trotzdem ab und zu andeutete, eifersüchtig zu sein, wurde er nicht böse, sondern lachte nur und sagte, daß wir hier und jetzt zusammen waren und daß in dieser Welt nichts anderes existiere. Ich war hoffnungslos in ihn verliebt, wußte aber – und das war es, was so weh tat –, wenn ich meine Liebe in den üblichen bürgerlichen Wendungen ausdrückte, würde ich ihn verlieren. Lieber wollte ich ihn dann und wann ganz haben, als ihn ganz zu verlieren. So sprachen meine Gefühle. Mein Gehirn dagegen war absolut einverstanden mit seinen umwälzenden Worten von sexueller Freiheit als natürlicher Folge persönlicher und politischer Befreiung. Aber damals wie heute wirft ein Mensch sein historisches Gepäck und seine Sozialisation nicht so einfach ohne gefühlsmäßige Stürme über Bord.
    Es war am Weihnachtsabend, als er mir eines seiner Geheimnisse anvertraute. Er verriet mir, daß wir uns in der Bibliothek nicht zufällig getroffen hätten. Er habe mich gesucht. Wir lagen im Bett und rauchten. Das Schlafzimmer lag im Halbdunkel, nur von den Kerzen erleuchtet, die Muster auf unsere nackten, verschwitzten Körper zeichneten. Die Peitsche hatte rote Spuren auf seiner Brust hinterlassen, und ich liebkoste sie behutsam mit meinen Lippen. Er lag auf dem Rücken. Ich hatte ihm die Handschellen abgenommen, und wir waren wohlig und zufrieden. Am Heiligabend, während das übrige Dänemark um den Weihnachtsbaum tanzte, hatten wir unsere Phantasien ausgelebt. Wir fühlten uns hoch erhaben über all die dummen Bürger. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand noch billiger Rotwein, und gleich würden wir in die Küche gehen und irgend etwas kochen. Es war das beste Weihnachten seit meiner Kindheit während des Krieges. Wir waren in ein neues Dezennium eingetreten. Im Oktober waren E. und ich gemeinsam mit achthundert anderen Pionieren der neuen Linken aus Protest gegen die furchtbaren Atomwaffen von Holbæk nach Kopenhagen marschiert. Ich erinnere mich noch an den heftigen Gegenwind und den strömenden Regen, der sich über uns ergoß. Aber das Wetter hatte uns nichts anhaben können, denn wir waren in einer neuen Bewegung vereint, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Wir kannten das Wort noch nicht – es war noch nicht erfunden –, aber wir waren Dänemarks erste »Graswurzelbewegung«, wie es im Dänischen heißt. Rundfunk und Fernsehen hatten den Marsch ignoriert und mit keinem Wort erwähnt. Wie schon so oft zuvor war ihnen nicht bewußt, daß die Gezeiten der Geschichte über das Land hinwegspülten. In den Weihnachtstagen 1960 konnte ich noch nicht ahnen, daß wir zu Ostern des neuen Jahres wieder marschieren würden. Trotz Matsch und Schnee würde diese Osterdemonstration von weniger als zweitausend Teilnehmern, die in Holbæk die Spruchbänder erhoben, bei ihrer Ankunft in Kopenhagen auf über zehntausend angewachsen sein. Die Kampagne gegen Atomwaffen war der erste große Anfang. Im Bett zu Weihnachten 1960 war ich überzeugt, daß

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