Die guten Schwestern
Büchern. Camus, Sartre, der verbotene Henry Miller, der neue spannende Rifbjerg, Erik Knudsen, später Marx. Aber besonders die Musik, die wir auf seinem neuen Plattenspieler hörten. Jazz und Rock. Die Musik der neuen Zeit. E. führte mich in die Zusammenhänge ein und machte mich früh erwachsen, sowohl als Frau als auch als Intellektuelle.
E. sorgte auch dafür, daß ich mir ein Pessar anpassen ließ, ehe wir in diesem regnerischen, stürmischen Sommer, der uns immerhin auch ein paar sonnige und heiße Tage brachte, mit dem Fahrrad in die Ferien fuhren. Der Regen war uns egal. Wir schlugen unser kleines Zelt auf und krochen in den Schlafsack und liebten uns, während der Regen aufs Zeltdach prasselte. Ende Juli bekam E. in Kopenhagen einen Job als studentische Hilfskraft in einem Ministerium. Er zog die Konsequenz und wechselte die Universität und half mir dabei, ein kleines Zimmer zu finden. Wir konnten nicht zusammenziehen, ohne verheiratet zu sein, und obwohl ich sicher bin, daß ich ja gesagt hätte, wenn er um meine Hand angehalten hätte, kam eine Heirat nicht in Frage. Sie würde unsere Freiheit beschneiden, das war uns unausgesprochen klar. Außerdem war es E. – und mir selbst – wichtig, eine Ausbildung zu erhalten. Ich sollte die erste Akademikerin der Familie werden. Befreiung und Ausbildung waren eins. Wir wollten Teil einer neuen Bewegung sein, die die bürgerlichen Normen abwarf. Vielleicht nach Paris ziehen und auf dem linken Seineufer als Existentialisten leben und wie Sartre und Simone de Beauvoir Liebende, Gesprächspartner und Genossen zugleich sein.
Ich liebte Kopenhagen von der ersten Sekunde an. Ich liebte die Anonymität in der großen Stadt, ich liebte den dichten Verkehr, das Leben und die Geräusche der Nacht, das Studium, weil ich die meisten Professoren interessant fand, auch wenn sie wie ferne Götter waren, die uns kleinen Studenten eine Predigt hielten. Nach Jütland fuhr ich selten. Im ersten Jahr war ich vielleicht ein oder zwei Mal zu Hause. Ich glaube, das machte meiner Mutter zu schaffen, aber ich mußte mein eigenes Leben leben. Da machte es nicht so viel, daß wir gewöhnlich kein Geld hatten. Wovon wir eigentlich lebten, daran kann ich mich heute kaum noch erinnern, aber arm waren die meisten, also war es nicht so schlimm. Das gehörte zum Jungsein und zum Studentendasein dazu. Nur Teddy vermißte ich. Mutter hat mir später gesagt, daß er fast täglich nach mir gefragt hat.
Aber wichtiger noch als die Liebe zu meinem kleinen Bruder war eben mein neues Leben.
E. war es auch, der die Initiative dazu ergriff, unsere sexuellen Grenzen auszutesten. Ich kann mich immer noch an das erste Mal erinnern, als er mich fesselte und mir sagte, ich solle Stop sagen, wenn ich mich gedemütigt fühlte oder Angst empfände, aber daß ich durch den Schmerz Lust und Genuß so stark wie noch nie erleben würde. Schmerz und Lust seien wie kommunizierende Röhren. In den verbotenen Phantasien und Spielen gebe es eine unbekannte, tiefe Gemeinschaft, die uns auf ewig verbände. Und er behielt in der Tat recht. Nie wurden wir ganz getrennt. Immer gab es eine Verbindung zurück in die Vergangenheit und zu unserem anderen Leben inmitten des gewöhnlichen Lebens. Als dann die vielen Veränderungen über unser Leben hereinstürzten, die Ostermärsche, die Antibabypille, der Protest, die Musik, die sexuelle Befreiung, die Frauenbewegung und – als natürliche Folge unserer Entwicklung – das revolutionäre Bewußtsein, da verstand es sich von selbst, daß wir nicht im traditionellen Sinne zusammenbleiben oder einander treu sein konnten, wie es das bürgerliche Dänemark predigte.
Zu heiraten stand nie zur Diskussion. Damit kokettierten wir gegenüber den Erwachsenen, als wir jung waren, um vor den Augen der dänischen Borniertheit Zusammensein zu dürfen. Wir wollten freie, neue Menschen sein, die sich nicht von Konventionen fesseln ließen. Das war gar nicht so einfach, wie es sich hier anhört, aber es war notwendig, damit die Ketten der alten Gesellschaft gesprengt werden konnten.
Aber unser ganzes Leben lang waren wir uns auf anderer und viel höherer Ebene treu. Wir waren unserer innersten Überzeugung und, allen Rückschlägen zum Trotz, unserer Erkenntnis treu, daß nur eine neue Gesellschaft in der Lage ist, die globale Ungerechtigkeit grundsätzlich zu verändern, welche die Mehrzahl der Erdbevölkerung in tiefer Armut hält, während wir unter Führung der USA von dieser
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