Die guten Schwestern
wir in ein Jahrzehnt eingetreten waren, das Dänemark und die übrige Welt für immer verändern würde.
E. räusperte sich und sagte:
»Irma, ich liebe dich.«
Die banalen Worte machten mich schwindelig vor Glück.
»Ich liebe dich auch.«
»Frohe Weihnachten, Irma.«
»Danke, gleichfalls.«
»Weil ich dich liebe, will ich dir etwas erzählen. Du darfst aber nicht böse werden.«
»Warum sollte ich auf dich böse werden?«
»Ich weiß, wer dein Vater ist.«
Er kannte mich. Ich wurde wütend. Er drang in einen seelischen Bereich ein, zu dem nicht einmal er Zugang hatte. In mein privates, verschlossenes Zimmer, zu dem nur ich den Schlüssel besaß. Ich hob die Lippen von seiner Brust und bohrte die Nägel in einen der roten Streifen.
»Au, verflucht«, sagte er und setzte sich mit einem Ruck auf, so daß ich fast aus dem Bett gerollt wäre.
»Das tat weh«, sagte er.
»Ich dachte immer, du magst das.«
»Du hast mir versprochen, nicht böse zu werden.«
Er sah mich mit einem gekränkten, aber auch neckenden und analytischen Blick an. Als trüge alles, was er unternahm, den Keim eines Experiments in sich, als wäre es eine Prüfung anderer Menschen, eine Studie über Vergänglichkeit und mangelnde Kontrolle. Er war schon damals charismatisch, ein großer Verführer und Manipulator, aber in Wirklichkeit vielleicht auch gefühlskalt. Es war eine Seite seines Charakters, die ich nie akzeptieren konnte. Heute sehe ich ein, daß ich seine Psyche vielleicht nie ganz verstanden habe und nie in seinen geheimsten Raum vorgedrungen bin. Damals wie heute ist es schwer für mich zu verstehen, daß er sich in totalem Gleichgewicht befand: im offenen alltäglichen Leben eloquent und kontrolliert, während er sich im Halbdunkel, in der Intimität des Bettes und in seiner Nacktheit wünschte, vollständig wehrlos und unterlegen zu sein. Denn so hatte es sich nach den ersten Experimenten ergeben. Im Bett tauschten wir in der Regel die Rollen. Doch nicht immer. Auch ich hatte die Verbindung von Lust und Schmerz kennen- und schätzengelernt. Aber wir widmeten uns dem Verbotenen nur von Zeit zu Zeit. Als fürchteten wir, vor uns warte ein Abgrund auf uns. Von dem, was wir taten, existierte kein Wissen. Darüber sprach oder schrieb man nicht. Meist liebten wir uns einfach leidenschaftlich und mit Freuden und konnten nicht genug voneinander kriegen.
Ich drückte meine Zigarette aus und steckte mir eine neue an und rauchte, während er mich forschend ansah, weil er wußte, daß ich mich schon wieder beruhigen würde, wenn sich der Satz erst einmal gesetzt hätte. Er lehnte sich gegen das Kopfende des Bettgestells, dann schwang er seine langen Beine über den Bettrand und holte zwei Gläser Rotwein. Er reichte mir das eine, noch immer ohne ein Wort zu sagen. Ich leerte das Glas in drei langen Schlucken und stellte es auf den Boden. Er trank einen Tropfen und stellte sein Glas auf die andere Seite des Bettes. Ich sah ihn an und liebte ihn. Wir saßen uns mit gekreuzten Beinen wie Indianer gegenüber, und vorsichtig fing er an, meine Brust und mein Gesicht zu streicheln.
»Liebe Irma. Wir haben keine Geheimnisse voreinander, aber jedes Ding hat seine Zeit.«
»Du hast mich überrumpelt. Das war alles«, sagte ich und hörte, wie meine Stimme zitterte.
»Du hast nur so reagiert, weil du dich schämst.«
Ich wurde wieder wütend.
»Was weißt du denn schon davon?«
»Ich weiß es eben. Weil deine Scham ein Spiegelbild der Scham ist, die ich selbst mal empfunden habe. Weil wir in den Augen der Gesellschaft stigmatisiert sind. Wir sollen die Sünden der Väter erben. Das fordert die Gesellschaft von uns.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte ich und hörte selber, wie belegt meine Stimme klang.
Er nahm meine Hand und küßte sie, beugte sich vor, nahm meine Zigarette, drückte sie aus und küßte meinen Mund und legte mich vorsichtig auf den Rücken, so daß mein Kopf auf dem Kissen ruhte. Dann begann er zu sprechen, wobei seine sanften, warmen Hände meinen Körper streichelten, als gäben sie mir eine unbekannte heilende Massage.
»Mein Onkel väterlicherseits und dein Vater waren zusammen an der Ostfront. Das Schicksal deines Vaters kenne ich nicht in allen Einzelheiten, aber ich habe ein Bild von ihm gesehen, zusammen mit deiner Mutter, dir und Fritz. Dein Vater ist in Uniform. Ich fand das Foto nach dem Krieg mit anderen alten Sachen, die mein Onkel und mein Vater hinterlassen hatten, auf dem Dachboden. Es war
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