Die guten Schwestern
unter sich. Der Verkehr schien ins Stocken geraten zu sein. Die Autos hielten in langen Schlangen. Er stellte sich vor, daß sie ungeduldig hupten, aber durch das vermutlich schußsichere Glas drang kein Laut herein.
»Im Herbst sind es schon zehn Jahre Demokratie. Wer hätte das im Frühjahr 1989 gedacht«, sagte Toftlund.
Gelbert lachte. Er hatte ein dünnes, hohes Lachen. Als wenn er es nicht ganz ernst meinte. Er hatte die Hände in die Taschen gesteckt. Er glich einem jungen Studenten, aber jetzt konnte Toftlund sehen, daß er doch älter war, als er zunächst angenommen hatte. Irgendwo in den Vierzigern. Seine Gesichtshaut war glatt, aber die Fältchen an den Augen waren doch nicht zu übersehen.
»Stimmt«, sagte Gelbert. »Bei den Gesprächen am runden Tisch vor zehn Jahren war ich dabei. Einer meiner Widersacher war unser jetziger Präsident. Er vertrat die Kommunisten. Damals in der Solidarność wären wir schon damit zufrieden gewesen, einfach zugelassen zu werden und vielleicht eine Zeitung herausgeben zu können. Die Politik der kleinen Schritte. Aber mit Gorbatschow in Moskau, der hiesigen Wirtschaftskrise und dem moralischen Bankrott der ganzen KP wurde plötzlich das Fenster der Möglichkeiten geöffnet. In der Geschichte meiner geschundenen Nation war das ein Wunder. An die Wahlnacht erinnere ich mich wie heute. Wir hatten gewonnen. Sogar hoch gewonnen. Aber es war, als glaubten wir selbst nicht recht an die Geschichte.«
»Und eine Umkehr ist ausgeschlossen?«
»Ja. Jedenfalls hier in Polen. Wir sind nicht Rußland. Hier träumt niemand von den alten Tagen. Die Wahrheit ist, daß es uns allen mehr oder weniger beschissen ging. Aber eins ist natürlich klar, Herr Toftlund, wenn Sie einen arbeitslosen Bergmann fragen, ob es ihm heutzutage gutgeht, dann schmeißt er Sie achtkantig raus. Fragen Sie mich oder einen jungen Computerfreak oder einen erfolgreichen Geschäftsmann oder einen freien Schriftsteller, dann erhalten Sie eine andere Antwort. Die Diskussion um Demokratie und Marktwirtschaft ist ein Klischee geworden. Alle treten dafür ein. Aber die Wahrheit ist, Herr Toftlund, wir haben Probleme. Aber es sind Probleme, die alle anderen kapitalistischen und demokratischen Länder auch haben. Unsere sind leider noch mit dem Erbe der kommunistischen Idiotie versetzt, denn wir sind eine postkommunistische Gesellschaft, und das werden wir eine ganze Generation lang bleiben. Aber ich bin Optimist. Wollen Sie sich nicht setzen?«
Toftlund setzte sich Gelbert gegenüber, der sich in seinen Schreibtischsessel pflanzte. Vor ihm lag eine braune Mappe. Eine Sekretärin trat mit Kaffee, Milch und Zucker ein.
»Was für einen Hintergrund haben Sie?« fragte Toftlund, während die Sekretärin Kaffee einschenkte und Milch und Zucker anbot.
»Die Universität. Ich habe englische und amerikanische Literatur unterrichtet. Ich gehörte zu den privilegierten jungen Leuten, die für ein Jahr nach Stanford durften. Vielleicht einer der wenigen Vorteile, die man als Jude hat. Die jüdische Gemeinschaft in den USA ist stark, und das Regime hier wollte wohl ein bißchen Goodwill und ein bißchen Geld. Außerdem blieben ja meine Eltern und meine Geschwister hier. Geiseln, die dafür sorgten, daß ich zurückkam. Zurückkam und in die Solidarność eintrat. Das Kriegsrecht setzte dem ein Ende. Wie viele andere wurde ich ein paar Monate lang interniert. Danach hatte ich dann in den Achtzigern kleine Jobs als Straßenfeger und Fensterputzer.« Er lächelte und rührte den Zucker in seinem Kaffee um. »Die normale Karriere eines mitteleuropäischen Intellektuellen, der den Parolen der Partei nicht mehr folgen wollte. Nach ‘89 war ich Redakteur einer jüdischen Zeitschrift, bis die Solidarność wieder an die Regierung kam und ich auf diesen Posten geholt wurde.«
»Und wo kommt der Dienstgrad her?«
Er ließ wieder sein hohes Lachen hören.
»Der Präsident meinte, mit Dienstgrad sei es am besten. Das hat noch mit den alten Sitten zu tun. ›Was willst du sein?‹ fragte er. ›Wie wär’s mit Oberst?‹ hab ich geantwortet. So wurde ich Oberst.«
»Was den Karrieristen, die Sie überholten, wahrscheinlich nicht genehm war, oder?«
»Wahrscheinlich nicht. Meine primäre Aufgabe ist es, im Geheimdienst aufzuräumen, die Sünden der Vergangenheit auszujäten, demokratisch gesinnte Menschen einzustellen, kurz gesagt, den Dienst zu normalisieren, damit er unter die Regie der NATO und der EU paßt. Ihn
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