Die guten Schwestern
einem kleinen Schlaraffenland. Darum beneide ich euch. Daß ihr nicht wißt, was Leid und Tod sind, dafür beneiden sie euch heute auch auf dem Balkan. Aber das läßt euch oft die Geschichte vergessen und was sie mit Menschen anstellen kann.«
»Wir haben die Gabe, uns vom größten Zoff fernzuhalten und uns elegant zwischen unseren großen Nachbarn hindurchzuwinden, besonders was Deutschland angeht«, sagte Toftlund.
Gelbert lächelte.
»Das hat euch die Geschichte ja gelehrt. So wie uns unsere Geschichte gelehrt hat, den morgigen Tag nicht als selbstverständlich anzusehen. Ich hatte neulich ein Treffen mit meinem russischen Kollegen, ein nettes, diplomatisches Treffen. Wir sind Gentlemen, selbstredend«, sagte Gelbert. »Aber es gab einen Unterton in der Luft. Das Treffen fand kurz nach der Mitteilung des Außenministeriums statt, daß zwei sogenannte Diplomaten zur persona non grata in Polen erklärt worden waren. Es war nun unwiderruflich, daß wir Mitglied der NATO werden würden. Das bedauerte er, aber meiner Meinung nach hatte er verstanden, daß Rußland im Augenblick schwach ist und Polen stark, weil wir jetzt von der einzigen Supermacht der Erde beschützt werden, den USA. Als wir uns verabschiedeten, reichte er mir die Hand und sagte: ›Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gelbert. Aber darf ich Sie bitten, an eines zu denken: Wenn ein Löwe krank ist, kann selbst der Affe ihn verdreschen. Was aber passiert wohl mit dem Affen an dem Tag, an dem der Löwe wieder gesund wird?‹ Das war eine elegant formulierte Drohung, aber eine Drohung war es.«
»Und eine elegant formulierte Beleidigung obendrein«, sagte Toftlund.
»Auch das. Hier essen wir.«
Sie betraten ein warmes und appetitlich duftendes Lokal. Die Tische waren fast alle besetzt. Die Kellnerinnen in ihren grünen Blusen und kurzen Röcken schienen einer schlechten Operette entsprungen zu sein, aber das Bier war gut gekühlt und frisch. Toftlund überließ Gelbert die Bestellung. Er war derart hungrig, daß es ihm im Grunde egal war, was er auf dem Teller hatte. Das Essen war schwer, aber gut. Sie begannen mit einer kräftigen Kohlsuppe, dann bekamen sie ein anständiges Stück Wildschwein mit Kartoffelknödeln, Sauerkraut und Soße. Es schmeckte ein bißchen wie bei Großmuttern, dachte Toftlund. Er aß mit großem Appetit. Gelbert ebenso. Er mußte eine Menge Kalorien verbrennen, so schlank wie er war. Sie bestellten noch ein großes Bier und beendeten die Mahlzeit mit einem Kaffee. Sie sprachen ein wenig über ihre Familien, aber vor allem über das Thema, das in diesem Frühjahr die meisten beschäftigte: den Krieg der NATO gegen Jugoslawien und die Flüchtlingsströme, die nach Albanien flossen und drohten, sich über ganz Europa zu ergießen.
Beim Kaffee sagte Toftlund:
»Es war sehr freundlich von Ihnen, mich zum Essen einzuladen.«
»Na hören Sie mal. Dänemark ist unser Nachbarland. Außerdem würde ich es immer als meine Pflicht ansehen, einem Mitarbeiter von Frau Vuldom zu helfen. Wie ich schon sagte: eine außergewöhnliche Frau.«
Toftlund fand es interessant, wie er das Wort Pflicht benutzte und überhaupt seine etwas altmodische Art, sich auszudrücken. In Dänemark konnte ein Wort wie Pflicht rasch in eine ironische oder sarkastische Bemerkung münden. Gelbert aber wirkte trotz seines amerikanischen Englischs mitteleuropäisch bis auf die Knochen.
»Hat sie Ihnen schon mal geholfen?«
»Sie sind ein scharfer Kombinierer, Herr Toftlund. Sie hat nicht nur, sie hilft noch immer. Für einen Menschen wie mich, der nicht aufgrund seiner polizeilichen oder juristischen Erfahrung in diese Stellung geholt worden ist, sondern weil man seine demokratische Gesinnung und sein sozusagen sauberes Vergangenheitsattest anerkennt, sind die Ratschläge, die eine Frau wie Frau Vuldom erteilen kann, von unschätzbarem Wert.«
»Ich verstehe.«
»Und noch ein Rat an Sie, bevor wir auseinandergehen. Wenn Sie erlauben.«
»Selbstverständlich. Es ist mir eine Ehre.« Der Satz rutschte Toftlund heraus, ohne daß er darüber nachgedacht hätte. Er hatte angefangen, wie Gelbert zu sprechen. Eine etwas altfränkische, formelle Art, die ihn an die Dialoge in einem alten Film erinnerten, die aber in diesem Fall sehr echt wirkten.
»Ihr Fall ist wirklich kompliziert. Ich glaube, Sie müssen in die Vergangenheit blicken. Besonders in die ferne…«
»Warum glauben Sie das? Verheimlichen Sie mir etwas?« fragte Toftlund eine Spur schärfer, als
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