Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
Vom Netzwerk:
diesem Teil der Erde die Geschichte zu vergessen ist ein Fehler. Sie umgibt uns ständig. Ich kann sie noch riechen, die Leichen meiner Landsleute im jüdischen Ghetto. Es ist kaum noch jemand von uns übrig…«
    »Das waren doch die Nazis.«
    »Richtig! Aber wer stand bitte nur ein paar Kilometer weiter am andern Ufer der Weichsel? Shukow und sein mächtiges Heer. Kam er uns zu Hilfe? Nein, er ließ die Nazis die Dreckarbeit tun, ehe er vorrückte. Er ließ die Nazis den polnischen Widerstand brechen und das Ghetto ausrotten, es wurde umzingelt, beschossen, vergast und zum Schluß bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Nicht weit von hier starben meine jüdischen Verwandten millionenfach in Auschwitz. Die ganze jüdische Kultur verschwand ein für alle Mal aus Mitteleuropa. Eine große, reiche und alte Kultur. Ausgelöscht auf immer und ewig.«
    Gelbert hatte seine Stimme gehoben. Die Belehrung ärgerte Toftlund. Das waren alte Geschichten. Außerdem knurrte ihm der Magen. Trotzdem fragte er:
    »Was sind Sie eigentlich heute, Herr Gelbert? Jude oder Pole?«
    »Polnischer Jude, der die Geschichte nicht vergißt«, sagte Gelbert. »Aber kommen Sie, lassen Sie uns weitergehen. Sie müssen Hunger haben. Ich bin ein schlechter Gastgeber.«
    Er schlug eine schnellere Gangart ein, und Toftlund folgte ihm.
    »Sie haben gesagt, Russen und Polen tragen ihre Geschichte mit sich herum. Wie einen alten Mantel, den sie nicht übers Herz bringen wegzuwerfen. Was meinten Sie damit?«
    »Das Mißtrauen zwischen uns ist tief. Es verschwindet nicht, nur weil wir jetzt frei sind und Rußland sich bemüht, eine Demokratie aufzubauen.« Er lachte wieder und fuhr fort: »Vielleicht ist es banal, aber es ist dennoch eine Tatsache. Die Russen wissen noch, daß die Polen im 17. Jahrhundert, als wir eine Großmacht waren, Moskau und den Kreml besetzten. Die Russen wissen noch, daß das polnische Heer 1920 die Rote Armee besiegte, als sie auf Warschau zumarschierte. Polen war gegen die Revolution. Wir Polen wissen noch, daß wir den größten Teil der letzten zweihundert Jahre von Russen besetzt gewesen sind. Die Besetzung war erst 1989 zu Ende. Eine blutige Besetzung. Wir vergessen nicht, daß es die Sowjets waren, die 15 000 polnische Offiziere in Katyn ermordet und den Deutschen dafür die Schuld in die Schuhe geschoben haben. Fast mein ganzes Leben lang war es verboten, über das Massaker zu sprechen. Aber wir wußten natürlich davon. Alle Polen wußten, daß es Lüge war, wenn das Regime die Geschichte abstritt. Hier lebt die Geschichte. Selbstverständlich müssen wir unser Verhältnis zu Rußland verbessern. Wir müssen mit dem Bären leben, aber wir brauchen ihm nicht zu trauen. Besonders dann nicht, wenn er wieder Hunger kriegt. Es ist gefährlich, den russischen Nationalismus zu unterschätzen.«
    Sie gingen schweigend nebeneinanderher, dann sagte Toftlund:
    »Ich werde den Eindruck nicht los, daß die Polen meinen, daß sie immer das Opfer Rußlands gewesen sind, während die Russen meinen, daß die Polen immer wieder die slawische Brüderschaft oder so was in der Art verraten haben.«
    »Eine scharfe und wahre Beobachtung, Herr Toftlund«, sagte Gelbert.
    »Aber nun ist Polen eine Erfolgsgeschichte und Rußland ein Fiasko. Die Rollen sind vertauscht, oder?«
    Wieder blieb Gelbert stehen. Sie waren durch enge Straßen gegangen und auf ein hübsches, quadratisches Plätzchen mit schönen klassizistischen Häusern und mit Geschäften und Restaurants gestoßen. Auf dem Platz standen mehrere Kutschen im Dunkeln. Kunden gab es nicht zu dieser Stunde. Die Kutscher waren in dicke Mäntel gehüllt, sie kauerten auf ihren Böcken und rauchten. Die Pferde hatten ihre Köpfe in den Futterbeuteln vergraben. Der Platz war für Autos gesperrt, so daß die Stille noch eindringlicher war. Der Dunst tauchte die Szenerie in ein zauberisches Licht, was die Tatsache verwischte, daß die alten Häuser aus modernem Beton erbaut worden waren. Toftlund lief ein Schauer über den Rücken. Er wußte nicht, warum ihm mit einem Mal unwohl zumute war. Vielleicht war es die Stimmung. Aber es kam ihm vor, als hörte er gedämpfte Schreie aus den Hausmauern. Es ging ihm auf, daß sie auf Skelettbergen standen, daß die Stadt auf den Leichen Tausender Menschen ruhte.
    Gelbert verstand seine Stimmung.
    »Hier lebt die Geschichte. Warschau ist nur eine Stadt unter anderen, die dazu beitragen, das Jahrhundert zum Jahrhundert der Opfer zu machen. Ihr Dänen lebt in

Weitere Kostenlose Bücher