Die guten Schwestern
Sie reichte ihm die aktuelle Herald Tribune, damit er sich die Wartezeit vertreiben konnte. Die Bombenangriffe der NATO waren das vorherrschende Thema. Sie verliefen nach Plan, sagten die NATO-Sprecher. Jeden Tag würden neue Ziele ausgewählt und getroffen. Das Wetter mache Ärger. Aber ein Heereseinsatz komme absolut nicht in Frage. Man versuche mit aller Macht, alliierte Verluste zu vermeiden. Es handele sich um einen hochtechnologischen Krieg, der auf Entfernung geführt werde. Die zivilen Verluste seien gering, sagte die NATO. Er las die Worte: Minimum collateral damage. Andere Artikel zeichneten ein weniger rosarotes Bild. Sie vermeldeten, daß Hunderttausende von Kosovo-Albanern auf der Flucht seien. Wovor? Vor den ethnischen Säuberungen der Serben? Oder vor den NATO-Bombern? Sie suchten Zuflucht in Mazedonien und Albanien, das unter der Flüchtlingslast zusammenzubrechen drohte. In den reichen europäischen Ländern wurde darüber diskutiert, ob man tausend oder vielleicht zweitausend Flüchtlinge aufnehmen sollte. Die Welt stand kopf, dachte er, als zwei Männer den Raum betraten und sich vorstellten.
»Oberst Karoly Karancsi, Chef des Nachrichtendienstes. Es ist mir eine Ehre, Sie zu treffen. Dürfen wir deutsch sprechen?«
»Gerne«, sagte Toftlund und war dankbar, in Tondern aufgewachsen zu sein. »Per Toftlund.«
Karoly Karancsi war ein kleiner kräftiger Mann mit schmalem Oberlippenbart. Er erinnerte ein wenig an den älteren Chaplin, aber sein schwarzes Haar schien gefärbt, die Wangen waren rund und glatt wie bei einem Kind und von der Rasur leicht gerötet, die braunen Augen saßen eng beieinander, die Stirn war niedrig. Sein Händedruck war fest und trocken. Sein gutsitzender, dunkler Anzug sah maßgeschneidert aus. Er trug ein hellblaues Oberhemd mit einer dunklen, einfarbigen Krawatte. Ein Bürokrat, der sich zu kleiden verstand.
»Laszlo Krozsel, Kriminalpolizei«, sagte der andere Mann und streckte die Hand aus. Er hatte einen zerknitterten Anzug an, der Schlips baumelte ihm lose um den Hals. Er war Mitte Dreißig, aber schon kahl. Er hatte eine faltige Haut, kleine graue Augen und nikotingelbe Finger. Er sah aus wie ein Polyp, auf dessen Schreibtisch sich die Fälle nur so stapelten und der jeden Tag mit neuen konfrontiert wurde. Er war es auch, der die Dossiers unterm Arm trug. Der Oberst hatte nur eine dünne graue Mappe in der Hand, darauf ein Stempel, ungarisch, es bedeutete sicher »Vertraulich« oder »Geheim« oder so was in der Art, dachte Toftlund.
»Wollen wir uns setzen?« sagte Karancsi. »Es tut mir leid, daß Sie warten mußten. Aber Ungarn befindet sich nur wenige Tage, nachdem es Mitglied der NATO geworden ist, im Krieg mit einem Nachbarland. Das ist keine einfache Situation. In der Vojvodina lebt eine große ungarische Minderheit. Die Unsicherheit wegen des Krieges ist groß bei uns. Die Bevölkerung versteht den NATO-Beschluß vielleicht nicht ganz. Falls wir Bombenangriffe von ungarischem Territorium aus erlauben oder die Passage militärischer Versorgungsfahrzeuge, dann können Sie sich sicher die sicherheitsmäßigen Komplikationen vorstellen. Sie mußten leider warten, weil ich aufgefordert wurde, das Kabinett zu unterrichten.«
»Ich verstehe«, sagte Toftlund. »Wir leben in einer schwierigen Zeit.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit«, sagte der Oberst. »Wir sind ja jetzt Verbündete und kämpfen auf derselben Seite. Dänische Piloten sogar aktiv. Einen so drastischen Schritt würde das ungarische Volk bestimmt nicht akzeptieren. Daß womöglich ungarische Piloten Landsleute bombardieren, die nur aufgrund eines zufälligen Verlaufs der Geschichte jugoslawische Bürger geworden sind. Aber das müssen wir Beamten den Politikern überlassen.«
Sie setzten sich an den glänzenden braunen Tisch, Toftlund saß den beiden gegenüber. Er hatte ein Gefühl, als würden sie jetzt über Butterimport oder Fischfangquoten verhandeln. Der Oberst nickte dem Kriminalkommissar zu, der ein Dossier öffnete, aber vorher sagte Karancsi:
»Wir haben das Material studiert, das uns von Dänemark und Polen zugesandt wurde. Selbstverständlich wollen wir gern behilflich sein, fürchten aber, daß wir nicht allzuviel beitragen können. Aber vielleicht können Sie uns behilflich sein. Doch darüber später. Darf ich vorschlagen, daß Herr Krozsel den Teil des Falles durchgeht, der den Mord an dem dänischen Staatsbürger betrifft. Herr Krozsel?«
Krozsels Deutsch war langsam,
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