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Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Titel: Die Habenichtse: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hacker
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nichts mehr suchen, hatte sie gesagt, und er wollte sie schütteln. Sie war wie weggetrieben, vor seinen Augen verschwommen. Abgenommen hatte sie, die vorher so weich gewesen war wie ein Mädchen, mit runden, kindlichen Knien und Ellbogen, so überrascht, daß er nicht wegging, nicht ohne dich, hatte er gesagt, ohne dich gehe ich nicht. Und sie hatte manchmal ein Unterhemd von ihm angezogen, nichts sonst, wie sie auch ihre Pullis auf der nackten Haut trug, keinen BH darunter, enge, weiche Pullis, hellblau oder rot. –Ich kaufe dir, was du willst, hatte er gesagt, aber sie wollte nichts, keinen Rock, kein Kleid. Selten nur ging sie mit ihm nach draußen, Hand in Hand, oder ließ zu, daß er seinen Arm um ihre Schulter legte. Bevor er sie überreden konnte, mit rauszugehen, suchte sie hektisch eine Jacke oder einen Mantel, selbst wenn es warm war. Einmal sagte sie, daß es keineswegs Angst war und nicht einmal Vorsicht; sie riß den Mund auf und lachte. Er hatte sie an den Schultern gepackt, weil sie nicht aufhörte zu lachen, ihr gleichmäßiges Gesicht verzogen, die Arme zu den Seiten ausgestreckt. Aber eine Ohrfeige beruhigte sie. Er mußte sie beruhigen: Sie glaubte ihm nicht. Und da war all der Dreck. Sie glaubte ihm nicht, daß er sie liebte, daß alles gut werden würde. Ben, der um sie herumschlich und ihr Tabletten brachte. Ben, der sie umarmte, seine Hände an ihrer Taille. Die Demütigung, die beiden zu bespitzeln, eifersüchtig zu sein. Und dann war sie weggewesen.
    –Jim, Jim, hatte Albert gesagt. Warum soll das die Polizei interessieren? Nach einem Jahr? Oder glaubst du, daß sie Anzeige erstattet hat, daß Mae dich angezeigt hat? Grinsend. Wahrscheinlich hatte Ben die Poster gebastelt. Aber der springende Punkt war, daß Albert oder Ben ein Foto hatten, und er hatte kein Foto. Fast, als erwartete sie ihn zu Hause, jedenfalls versuchte er sich das vorzustellen. Es kostete nichts, aber dann tat es doch weh, und er hing seinen Gedanken nach, malte sich Sachen aus, vielleicht hing das mit der Wohnung zusammen, daß er eine Art Zuhause hatte, sogar einen Garten.
    Ohne sich in dem Gewimmel um Camden Lock aufzuhalten, ging Jim nach Hause, öffnete die Tür, schloß sie hinter sich ab. Wenig später lief Dave vorbei, den Kopf abgewendet, bemüht, sehr langsam. Das Paar aus der Nummer 49 schlenderte die Straße hinunter, vielleicht auf dem Weg zur U-Bahn. Sie hielten sich nicht an den Händen.

21
    Sie streckte sich flach auf dem Boden aus und hielt den Atem an, bis Polly kam und sie kitzelte. Solange sie nicht atmete oder lachte, hörte sie den Staub, jedes einzelne Staubkörnchen, jede noch so leise Bewegung, wie etwas sich sachte auf ihrem Gesicht, auf ihrem Bauch niederließ, sogar auf den offenen Handflächen, auch wenn man das nicht so gut sah wie gegen Sonnenlicht, in den Lichtbahnen, die Dave ihr zeigte, wo alles sich bewegte, tanzte, drehte, –unzählig viele, sagte Dave, weiter als je ein Mensch zählen könnte. Spürst du es? Denn das gehörte zu den Dingen, die man lernen, die er ihr beibringen konnte. Jedes einzelne Staubteilchen, das zu klein für die Augen war. Allerdings bedeutete das gar nichts, erklärte Dave, zu klein war nicht wichtig, wenn etwas ganz war, wenn es vollständig war, so wie ihre Füße oder Hände und wie jedes Baby, das winzig war, aber trotzdem nicht weniger als du oder ich, sagte er, ist doch klar, oder? Also mußte sie sich, wenn sie nicht wuchs, keine Sorgen machen, und wenn sie nicht in die Schule durfte – aber Dave verdrehte die Augen, wenn sie das sagte. –Irgendwann kommen sie ihm drauf, sagte er und meinte Dad, und dann kommt jemand von der Schule, um dich zu holen. Ist doch egal, wie groß du bist, sagte er, und daß sogar ein einziges Staubkorn vollständig und wunderschön sei, auch wenn sie es mit bloßem Auge nicht erkennen könne. –Schau nur, wie der Staub tanzt, sagte Dave, und immer wenn sie alleine sei, habe sie nicht nur Polly und ihre Puppe, sondern auch die ganzen Staubkörnchen, jedes einzelne ein winziges Mädchen mit wunderschönem langen Haar, lauter Prinzessinnen, die miteinander spielten, und wenn sie Sara nicht beachteten, liege das daran, daß sie so groß sei. Unsichtbar sanken, tanzten sie auf ihren nackten Armen, versuchten sogar, ihr etwas zuzurufen, und wenn sie still lag, den Atem anhielt, konnte sie hören, wie sie riefen, spielten, mit altmodischem Spielzeug, mit Reifen und Jojos und echten Puppenstuben. Sie lag still, um zu spüren,

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