Die Händlerin von Babylon
Sonnenblumen. Die Kranken wurden launisch und lustlos, sie verloren den Appetit und die Fähigkeit, Gifte auszuscheiden, dadurch verloren sie auch Gewicht, bis sie schließlich ins Koma fielen. Cheftu hatte lang genug im Altertum gelebt, um diese Koma-Patienten sterben zu lassen. Sie konnten keine Nahrung mehr aufnehmen; sie dämmerten einfach vor sich hin. Bis dato schien nichts die Krankheit aufhalten zu können. Aber sie breitete sich nur langsam aus und war allem Anschein nach nicht ansteckend.
Sie war allem Anschein nach nicht ansteckend gewesen.
Um den Familien der Kranken den Abschied zu erleichtern, wurde jedes Individuum, das Symptome der Krankheit zeigte, in einen bestimmten Teil des Lagers gebracht. Das dortige Behelfskrankenhaus war primitiver als jedes Lazarett, das ein Pharao bei einem Feldzug geduldet hätte.
Diese Menschen hatten die Schrift erfunden, rief Cheftu sich in Erinnerung. Doch es würde Jahrhunderte dauern, bis sie eine Kanalisation entwickelten. Und selbst danach waren in den meisten europäischen Städten über Generationen hinweg die einfachsten Grundlagen vergessen worden. Ich darf nicht urteilen. Steh ihnen einfach bei. Sonst nichts.
Trag deine Schulden ab - damit Chloe es bequem und sie beide zu essen hatten -, dann such dir ein neues Ziel.
Cheftu untersuchte seine fünfzehn neuen Patienten. Im Durchschnitt waren sie älter als die erste Gruppe. Er beobach-tete, wie eine Mutter ihrer Tochter mit dem Löffel Milch einflößte. Die Tochter war schon fast im heiratsfähigen Alter, konnte aber nicht mehr reden, sondern nur noch mit Sonnen-blumen-Augen ins Leere starren. Ein riesiger Kupferkessel hielt die Milch warm, sodass alle Patienten von ihren Angehörigen gefüttert werden konnten. Cheftu schauderte bei dem Gedanken daran, wie viel sie für den Zugang zu diesem Kessel gezahlt haben mussten. Söldner kontrollierten die Esagila.
Während des Nachmittags schieden zwei Patienten still und leise aus dem Leben.
Auf dem Heimweg durch die Massen rätselte Cheftu, warum die Menschen sich so abschufteten, was sie sich wohl erhofften. Der Bau erhob sich immer höher, in atemberaubender Geschwindigkeit. Wenn man die Pyramiden ebenso schnell hochgezogen hätte, dann hätte in jedem ägyptischen Dorf eine gestanden. Sonnenblumenaugen in den unterschiedlichsten Stadien starrten ihn aus Zelten und Unterständen an, in Bauchlage oder im Sitzen.
Noch während Cheftu die Innentreppe zu dem Zimmer, das er mit Chloe teilte, erklomm, spürte er den Schmerz tiefer Enttäuschung. Wo war Gott?
Er reichte ihr etwas Brot und Bier und ließ sich seufzend nieder.
»Ich habe unsere Nachbarn kennen gelernt«, eröffnete sie ihm nach einem Begrüßungskuss. »Ein nettes Pärchen. Samu und Ela.«
»Was machen sie?«
»Ela ist Weberin, und Samu macht irgendwas am Bau. Sobald ich mich erholt habe, will Ela mich dem obersten Ziegelmaler vorstellen. Komisch, aber die beiden haben auch keine Kinder.«
Schnaubend leerte Cheftu sein Bier. Sein Haar wuchs allmählich wieder nach, inzwischen war es schon mehrere Zentimeter lang. Es hing in Zotteln herab, und wenn er so gebeugt in den Raum trat, wirkte er fast wie ein geprügelter Bär. Chloe beugte sich vor und küsste ihn.
Er erwiderte ihren Kuss, doch wirkte er zerstreut.
Sie rutschte ihm auf den Schoß, küsste ihn noch einmal, massierte dabei seine Schultern und öffnete sich ihm mit Leib und Seele. Er gab sich ihr nach Kräften hin, aber seine Sorgen schien er nicht abschütteln zu können. Sie zog ihn auf das Binsenbett und hielt ihn in den Armen. »Sprich mit mir.«
»Es ist ein riesiger Betrug«, sagte er.
Sie streichelte abwartend seine Schläfe.
»Die Menschen glauben, die Götter würden eine zweite Sintflut schicken. Jeder von ihnen hat, soweit ich das überhaupt erkennen kann, die Große Flut als unauslöschliches Bild im Gedächtnis. Sie wissen nur zu gut, dass ihre Familien ihren gesamten Besitz und ihr Leben verloren haben.«
Er seufzte. »Und die Menschen, die dieses Bauwerk entworfen haben, taten das, um die Götter zu überlisten. So behaupten sie wenigstens.«
»Und worin liegt der Betrug?«, fragte sie, als er nicht weitersprach.
»Es wird keine zweite Flut geben. Sie dient nur als Vorwand, damit die Armen und Unterdrückten den Reichen und Mächtigen eine luxuriöse Wohnstatt bauen. Die Reichen verkaufen das Essen, das die Armen kaufen müssen. Jede Erleichterung wird mit Schuldknechtschaft erkauft. Auf diese Weise erneuert sich
Weitere Kostenlose Bücher