Die Händlerin von Babylon
Ur, war die Ensi, die gewählte Herrin des Tempels.
Als Fleisch gewordene Inana war sie die geistliche Gefährtin des weltlichen Führers, des Lugal - ebenfalls ein Wahlamt. Puabi wiederum ernannte den En, den Hohepriester, der die Fruchtbarkeit innerhalb der Stadtmauern von Ur sicherstellte.
Puabi setzte die Krone auf und schenkte Shama ein Lächeln zur Begrüßung. Weil es Neujahr war, wurde sie von ihrer Umwelt abgesondert, bis die Sterndeuter verkündeten, dass das neue Jahr tatsächlich begonnen hatte. Shama konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, schließlich war er nur ihr Kammerdiener, doch er hatte das Gefühl, dass sich das neue Jahr dieses Mal besonders viel Zeit ließ. Normalerweise trat es zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche ein, doch die lag bereits einen Monat zurück. Was ihm deshalb im Gedächtnis haften geblieben war, weil sich zu diesem Zeitpunkt der Mond rot gefärbt und der Euphrat die Dörfer und Marschen im Norden ertränkt hatte.
Die Überschwemmung hatte die Ratten zu Tausenden das Flussbett entlanggeschwemmt. Einige davon hatten einen Umweg über Ur genommen, wo sie aufgespießt, gebraten und an Menschen mit geschmacklosem Gaumen verkauft worden waren, doch die meisten hatten sich kopfüber ins Südmeer gestürzt. Er vermutete, dass sie dort bis Dilmun weitergeschwommen oder ertrunken waren.
Von allem, was Shama zuwider war, waren Ratten das Ekelhafteste.
Puabi wandte ihnen den Rücken zu, woraufhin sich alle erneut zu Boden warfen, bis sich die Tür wieder geschlossen hatte.
Die Trommeln störten Shama nicht; er hörte sie kaum mehr, weil er schon seit der Großen Flut im Tempel lebte. Trotzdem kroch der Schlag der Pauken durch seine Beine nach oben, bis er nachschauen musste, ob auch kein Ungeziefer an ihm hochkrabbelte. Shama hasste jedes Ungeziefer, ganz besonders die großen schwarzen Käfer, die nachts von der Decke in sein Bett purzelten und widerwärtig knirschten, wenn er sie beim Umdrehen platt walzte.
Shama führte die Priester und Laienpriester, jene makellos gebauten Knaben und Männer, in die Tiefen des Tempels. Dort standen die Statuen, die Götzenbilder Ninhursags und Enlils, Inanas und Pazuzus, Shamashs, Sins sowie einer ganzen Reihe weiterer Götter, deren Namen ihm entfallen war. Nur ein Einziger war dort nicht vertreten - der Höchste unter allen.
Der Gott der Götter war zu mächtig, um ihn in Lehm oder Gold zu formen. Er zeichnete mit seinem Finger den Himmel, er brauchte keine Priester oder Tempel, er sprach direkt zu den Menschen. Er vertraute sich nicht den albernen Göttern des Sturms, der Wolken und der Sonne an; die waren lediglich seine Höflinge, seine Bediensteten und ihm darum weit unterlegen.
Die Menschen kannten nicht einmal den Namen des Gottes aller Götter.
Shama wies auf die frisch gewebten Kleider für jede Statue, auf den Schmuck, den sie tragen würden, auf die Wachsstöcke und Votivgaben, welche die Statuen auf ihrer Prozession von ihren eigenen Tempeln hin zu jenem von Sin begleiten würden. Anschließend zeigte er den Priestern ihre Roben.
Soweit Shama es feststellen konnte, drehten sich die gesamten Neujahrsfeiern nur ums Krachmachen und um neue Klei-der. Alle Welt bekam neue Kleider. Wahrscheinlich war das Ganze eine Verschwörung des Weber-Karums, auch wenn Shama das nicht beweisen konnte. Und kein Mensch hörte auf einen alten Greis, der sich noch an die Große Flut erinnern konnte.
Wenn er sich nicht nur an die Große Flut erinnert hätte, sondern auch fähig gewesen wäre, davon zu erzählen, hätte er seinen Eltern wahrscheinlich Freude gemacht und wäre Anwalt geworden. Dann hätten die Menschen mit Sicherheit auf ihn gehört. Doch der gleiche Fluch, mit dem die Krähe wegen ihrer Gier belegt worden war, hatte auch Shamas Stimme heimgesucht: Er stotterte. Folglich hatte er seit Jahrzehnten, abgesehen von gemurmelten rituellen Sprüchen, kaum ein Wort von sich gegeben.
Was ideal war, denn schließlich musste er die Geheimnisse des Tempels wahren.
Selbst wenn er insgeheim die Götter für quengelnde Flegel hielt, denen etwas Disziplin nicht schaden konnte.
Shama beobachtete, wie sich die jungen Priester an die Arbeit machten. Der große blonde Kidu war Puabis persönliches Projekt, schließlich hatte sie ihn aus den Bergen geholt und mit eigener Hand ausgebildet. Ihm war ein unersättliches Verlangen nach Essen und Fortpflanzung eigen; schon jetzt standen die Frauen von Ur um seine Dienste Schlange. Der Geist des Mannes war im
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