Die Händlerin von Babylon
sich.
Der Tafelvater tauchte wieder auf, und der Unterricht ging weiter.
Den gesamten Nachmittag über musste sie gegen die Müdigkeit ankämpfen. Die Älteren Brüder schlenderten durch den Raum und hielten nach jenen Unglückseligen Ausschau, die der Schlaf übermannt hatte. Falls ein Junge eingenickt war, rieben sie ihm seine Lehmtafel übers Gesicht - wodurch sie seine ganze Arbeit auslöschten und ihn bis zum Abend brandmarkten.
Chloes Hand verkrampfte sich, weil alles in Spalten geschrieben wurde und die Spalten noch dazu von rechts nach links verliefen. Infolgedessen musste sie ihren Arm stets in der Luft halten, wenn sie das Geschriebene nicht gleich wieder verschmieren wollte. Sie fragte sich, wie es hier wohl den linkshändigen Knaben erging - wahrscheinlich kamen sie in der Schule nicht weit.
Ihr Blick wanderte über die Liste: Mann, Frau, männliches Kind, weibliches Kind, Familie. Tante, Onkel, Großvater, Großmutter, Cousin. Anders als die meisten ihr bekannten Sprachen beruhte diese hier auf Additionen. Der Grundbegriff für Mensch wurde soweit ergänzt, bis er zum Beispiel Tante bedeutete - menschliches Geschwister meines Vaters/meiner Mutter - oder Großvater - männlicher Mensch, der meinen Vater/meine Mutter gezeugt hat. Alle Silben wurden aneinander gehängt, bis ein langer, sperriger Titel entstand. Das da-durch entstehende Symbol war so kompliziert, dass es nicht als irgendetwas Konkretes identifiziert werden konnte. Es war ein rein intellektueller Prozess.
Chloe wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Rücken schmerzte vom Geradesitzen und von der stundenlangen Konzentration. Ich werde nicht einschlafen, ermahnte sie sich. Immer wenn sie spürte, wie ihr die Augen zufallen wollten, piekte sie sich mit dem Griffel ins Handgelenk. Das Schilf war nicht scharf genug, um die Haut aufzuritzen, doch es hinterließ ein rotes Mal.
Wann würde dieser Tag endlich enden?
Und wenn sie heimkam, musste sie dem Lugal noch ein paar dieser Bollen backen. Dies war Bestandteil ihres »Handels«.
Shama servierte das Essen und begann wieder zu fächeln. Kidu knabberte an Puabis Brust, während der Qualm wie ein weiterer Vorhang im Raum hing.
»Du bist so schön, Aiza«, murmelte er in Puabis Haut hinein.
Seine Herrin, die nicht vom Opium berauscht war, schubste ihn zeternd weg. »Wer ist Aiza?«
»Du bist es«, lallte der Bergmensch. Seine Pupillen waren geweitet und ließen seine hellbraunen Augen seelenlos und schwarz wirken.
»Bin ich nicht, du verkommene Laus! Wer ist Aiza? Shama«, wandte sie sich an ihn, »hole mir den Schreiber, der die Liste aller Frauen führt, die den En besucht haben.« Sie drückte Kidu weiter weg, woraufhin er in den Kissen versank. »Es ist dir auferlegt, keinem Weib öfter als einmal im Monat beizuwohnen«, sagte sie zu ihm. »Wer ist Aiza? Gehört ihr etwa dein Herz?«
Shama schaute schweigend zu. Puabi war berüchtigt für ihre Eifersucht. Dies war einer der Gründe, weshalb es im Gemeinwesen so viele Ens gegeben hatte. Puabi ertrug keinen Mann, der nicht ausschließlich ihr ergeben war, dabei gehörte es zur Aufgabe des En, die empfängnisbereiten Frauen von Ur zu schwängern. Shama wusste schon, welche Worte als Nächstes von Puabis Lippen fallen würden; wenn sie eines war, dann konsequent.
»Ich habe dich zum En gemacht«, erklärte sie dem schlummernden goldenen Giganten. »Ich kann das auch wieder rückgängig machen. Vergiss das nicht. Hörst du mich?«
Kidu schnarchte leise, weshalb Puabi aufsprang und Shama attackierte. »Hör auf! Hör auf zu wedeln! Du machst mir Kopfschmerzen!«
Shama ließ den Fächer sinken und neigte den Kopf.
Einen Moment blieb Puabi reglos stehen, dann seufzte sie tief und bebend. »Hab ein Auge auf Kidu, Shama. Er ist nicht vertrauenswürdiger als seine Vorgänger.«
Shama wühlte in seinem Bauchbeutel nach dem Kraut, das Puabis Kopf Linderung verschaffen würde. Er streute es in ihr Bier, rührte um und reichte ihr dann den Becher. »Warum sind mir die Götter nicht wohlgesonnen?«, fragte sie. »Warum laden sie mir Schwächlinge auf, die dieser Rolle nicht würdiger sind als ein Ochse? Ich habe diesen Mann aus den Hügeln der Barbaren geholt, ich habe ihn mit eigenen Händen aufgepäppelt und gekleidet, ich habe sein tierisches Drängen erduldet, bis ich ihm beibringen konnte, wie man einer Frau beiwohnt -« Puabi warf die Hände hoch. »Ich habe ihn gelehrt, nicht nur zu grunzen, sondern zu sprechen und zu lesen.«
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