Die Händlerin von Babylon
für mich zurück.«
»Ich, Herr?«, fragte der Junge nach.
Cheftu schätzte, dass der Knabe etwa neun Jahre alt war. Er sprach mit hoher Stimme und war dünn, aber wie bei allen männlichen Wesen im Tempel war auch sein Gesicht absolut gleichmäßig und sein Leib ohne jeden Makel. Eines Tages würde er zu einem blendend schönen Mann heranwachsen. In seinen schwarzen Augen leuchtete Neugier auf. »Ich kann ihn ... einfach so aufheben? Vom Boden? Ohne dass er ... mir was tut?«
Falls er verletzt oder entstellt wurde, würde er seine Anstellung im Tempel verlieren.
»Nimm einen Wasserschlauch mit«, riet Cheftu ihm. »Und prüfe die Hitze des Steines, indem du ihn mit Wasser begießt.«
»Wie bei einem Stein, der neben einem Feuer liegt?«, fragte der Junge.
»Ganz genau.«
Der Schauer war noch nicht vorüber, aber längst nicht mehr so beeindruckend wie zuvor. Nur ein paar verspätete Sternschnuppen zuckten noch über den Himmel. Wahrscheinlich wagten sich die Mandanten, Edelmänner, Freien und Sklaven mittlerweile wieder ins Freie, und der Rat würde in Kürze seine Beratungen aufnehmen. Falls der Pöbel dann verängstigt genug war, würden sie Puabi holen. »Geh los«, befahl Cheftu. »Beeil dich, such gründlich und verrate niemandem ein Wort davon.«
Nach einer hastigen Verbeugung stürzte der Junge los.
Shama presste den erhitzten Stein gegen den Filz und dämpfte die Falte. Rudi und Puabi saßen auf ihren Sesseln, von Sklavinnen befächelt, während der En rastlos auf und ab marschierte.
»Du wetzt noch den Teppich durch, Kidu.«
»Der alte Fuchs ist schlau«, meinte der En. »Gerissen.«
»Dann hat er die Aufzeichnungen eben gestohlen. Was macht das schon?«, fragte Puabi.
Shama blickte auf und bemerkte, wie Rudi die Augen verdrehte. »Wir sollten uns den Kopf lieber über die Sterne zerbrechen, die gestern Abend vom Himmel gefallen sind«, meinte die Sterndeuterin.
»Es macht insofern etwas«, widersprach Kidu, »als der Rat ohne irgendeinen Beweis dafür, dass Asas Prophezeiungen in der Vergangenheit falsch waren, glauben könnte, er hätte diesmal Recht.«
Shama wunderte sich immer mehr über den En - war es das Gewicht seines neuen Amtes, das diese Veränderung bewirkt hatte, oder seine Abkehr von Frauen und Drogen, oder war es irgendetwas Düsteres? Obwohl in Kidus Fall sogar eine Besessenheit eine Verbesserung dargestellt hätte.
»Und das wiederum bedeutet, dass der Lugal dich ganz legitim und legal auffordern kann, dein Amt niederzulegen«, erläuterte Rudi ihrer Schwester.
»Wie ist er nur an die Aufzeichnungen gekommen?«, jammerte Puabi. »Du bist doch der En! Mein Gefährte! Mein Beschützer! Wie konntest du zulassen, dass mir so etwas widerfährt?«
Shama senkte den Blick auf seinen Filz, drehte den Rock um, fixierte mit Nadeln den nächsten Abschnitt und fasste nach der Zange. Sobald der Stein mit einem Zischen auf dem wassergetränkten Stoff zu liegen kam, stimmte Shama im Geist ein Lied an. Vor vielen, vielen Jahren hatte er entdeckt, dass dieses Lied gerade die richtige Länge hatte, um sicherzustellen, dass eine Falte glatt wurde. Blieb der Stein zu lange liegen, würde er die verfilzte Wolle versengen.
»Es sind öffentliche Akten«, wehrte sich der En. »Schließlich bin ‘ch Priester, kein Richter.«
Schmollend zupfte Puabi an ihren Ketten herum.
Shama war enttäuscht über das Verhalten seiner Herrin. Jahrelang hatte sie alle Vorzüge ihres Amtes ausgekostet. Sie hatte in der Gabenfülle geschwelgt, dafür würde sie nun unter der Peitsche leiden. Aus der Hand der Götter erhielt niemand etwas geschenkt - sie kannten keine Gnade.
Außer möglicherweise der Gott der Götter. Aber der würde sich niemals in ein so unbedeutendes Gezänk einmischen.
Rudi beugte sich vor und legte eine sommersprossige Hand auf das mit Wolle bedeckte Knie ihrer Schwester. »Ich habe die fallenden Sterne ebenfalls gesehen«, sagte sie. »Da war der Blutmond, die Mondfinsternis, der neue Stern, aber das heißt nicht -«
Puabi wandte sich ab, als könnte sie den Anblick ihrer Schwester oder ihres Geliebten nicht ertragen.
Shama griff zur Zange und legte den Stein ins Feuer zurück. Er blies über die neue Falte, wischte ein paar abgeplatzte Lehmkrümel weg und zog schließlich die Nadeln wieder heraus.
»Überschwemmungen gibt es immer wieder«, sagte Puabi. »Und auf den Feldern wächst das Getreide. Gesund und kräftig. Es gibt gar keinen Grund -«
»Die Sterne stürzen vom Himmel«,
Weitere Kostenlose Bücher