Die Häupter meiner Lieben
hinhaltende Worte ein, die Detlef ein wenig Hoffnung machten.
Gleich am ersten Ferientag setzten wir uns in die Eisenbahn. Coras Verwandte schienen über den Besuch nicht begeistert; sie hatten im übrigen wenig Zeit für uns. Im Grunde war uns das recht. Cornelia war nichts anderes gewöhnt, denn auch ihre Mutter zeichnete sich durch Abwesenheit aus. Diese schöne Frau, die ich nur selten gesehen hatte, war eine Herumtreiberin, wie Cora sagte. Sie hörte Psychologie-Vorlesungen, besuchte Vernissagen, graste Boutiquen ab und flog für drei Tage nach New York. Ich bewunderte sie. Ihre Hamburger Schwester war anders, ein ernstes Arbeitstier. Von früh bis spät regulierte sie Gebisse in einer zahnärztlichen Gemeinschaftspraxis.
Nachdem wir einen Tag in Hamburg ausgeschlafen hatten, fuhren wir nach Lübeck. Ich war noch nie so aufgeregt gewesen. Sah mein Vater noch genauso aus wie auf dem Foto, das ich besaß? Immerhin war dieses Bild neun Jahre alt. Ein phantasievoller Mann war er gewesen, zuweilen lustig, dann wieder nachdenklich und in sich gekehrt. Beim Malen durfte man ihn nicht stören. Er war schlank und schön, mit einem Bärtchen. Würde ich ihn erkennen? Ich konnte mir seine Stimme nicht mehr vorstellen. Wie würde Cornelia ihn beurteilen? Auch das war mir wichtig.
Wir mußten mehrmals fragen, bis wir die Straße fanden. Es war eine Souterrainwohnung. >Roland Westermann< stand auf einem blauen Isolierband, das unter die anderen Klingelknöpfe geklebt war. Wir schellten, erst zaghaft, dann kräftiger. Als wir fast aufgeben wollten, wurde die Tür aufgerissen.
Ein böser Mann im Bademantel stand vor uns. Er war eine Karikatur des Königs.
Nach einem Anfall ohnmächtigen Schreckens sagte ich: »Ich bin Maja!«
Mein Vater zurrte den viel zu kleinen, rot-grau gestreiften Veloursmantel mit einem Strick etwas enger um den verschwollenen Bauch und rieb sich die Augen. Er starrte mich an, sichtlich noch überraschter als ich: »Bist du etwa meine Tochter?«
Ich nickte und mußte weinen. Der dicke Mann zog mich ins Haus, die ratlose Cora folgte unaufgefordert. In einer dunklen Wohnküche setzten wir uns auf eiserne Gartenstühle mit defekten Lattensitzen. Es stank nach Bier, Rauch, saurem Kohl und ungelüftetem Bett, durch eine offene Tür sah man ein graues Lager.
Vater schüttelte ständig den Kopf. Dann sah er nach der Uhr, die neben einem Rasierspiegel über der Spüle hing. Es war zwei Uhr nachmittags.
»Eine schlechte Zeit. Ich arbeite sehr früh am Tag und wollte gerade mein Mittagsschläfchen halten.«
»Wir konnten nicht wissen...«
Cora sah ihn an. »Ich bin Majas Freundin«, sagte sie deutlich, als rede sie mit einem Schwachsinnigen. Vater hatte Watte im rechten Ohr, die er langsam herausklaubte.
»Du warst ein schönes Kind«, sagte er zu mir.
Ich wußte nichts zu antworten. War ich nicht mehr schön ?
Cora öffnete die Fenster. Vater stand auf, zog im Kämmerchen die Rolläden hoch und trug einen Nachttopf hinaus. Mit wäßrigen Augen blinzelte ich Cora an, als er draußen war.
»Dein Vater säuft«, sagte sie.
So weit war meine Diagnose noch nicht gediehen. Als er wieder hereintrat, betrachtete ich ihn en detail. Weiße Schlieren in, dicke Tränensäcke unter den Augen, kein Bärtchen mehr, dafür unrasiert. Schüttere Haare von undefinierbarer Farbe, die strähnig abstanden. Der Bauch war aufgeschwemmt, ein schmutziges Unterhemd war unterm Bademantel auszumachen, an den Beinen Schlafanzughosen aus oliv-mausfarben gemustertem Flanell.
Vater genierte sich vor meinen Blicken. »Ich ziehe mich an«, sagte er und zog die Tür zum Schlafkämmerchen hinter sich zu.
Wieder blickten Cora und ich uns an. Sie zog das Geld aus ihrer Tasche und gab es mir. »Wir sagen: Lotto!« flüsterte sie.
Als Vater erneut auftrat, hatte er sich verbessert. Er trug einen dunkelblauen Troyer, der weit genug war, den Bauch zu verbergen, hatte sich gekämmt und mit einem scharfen Eau de Cologne befeuchtet. Seine schwarze Hose war allerdings voller Katzenhaare.
»Kinder, ist das eine Überraschung!« sagte er. »Wir gehen jetzt in ein Gasthaus, hier ist es leider immer muffig. Schlecht genug für einen rheumatischen alten Mann, aber unzumutbar für junge Damen.«
Ich gab ihm das Geld. »Wir haben im Lotto gewonnen!« sagte ich.
»Das kann ich unmöglich annehmen«, rief er und zählte die Scheine, »die eigene Tochter werde ich niemals anpumpen.«
»Ich schenke es dir«, sagte ich.
Vater steckte es ein.
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