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Die Häupter meiner Lieben

Die Häupter meiner Lieben

Titel: Die Häupter meiner Lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Ich wäre gern umarmt worden, aber nicht vom rheumatischen alten Mann, sondern vom König und Künstler.
    In der Kneipe bestellte er Bier und Schnaps für sich, ich wollte Kaffee, Cornelia Schokolade. Ich mußte von Carlo und mir erzählen. Vater wurde nach einigen Schnäpsen netter, gelöster, witziger.
    »Was ist ein Blutbote?« fragte ich.
    Er erklärte, daß er früh am Tag mit einem Firmenwagen aufbreche und zahllose Arztpraxen besuche. Man übergab ihm eine Tasche mit verschiedenen Blutproben, die er in ein Zentrallabor brachte. »Blut klebt an meinen Händen«, sagte er scherzend. Mittags sei er wieder zu Hause und mache ein Schläfchen, um dann aufzustehen und zu malen. Das große Unglück sei ihm letztes Jahr widerfahren, als er für sechs Monate seinen Führerschein losgeworden sei und keine Arbeit mehr hatte. Gott sei Dank habe man ihn danach wieder eingestellt. »Aber ich habe Schulden, Kinder... Von Sozialhilfe kann man nicht leben.«
    Natürlich wollte ich von seiner künstlerischen Arbeit wissen. Er versprach mir, zu Hause seine Bilder zu zeigen. Aber als wir nach drei Stunden die Gastwirtschaft verließen, schickte er uns zum Bahnhof. Er müsse arbeiten, und wir könnten ihn ja in den nächsten Tagen wieder besuchen. Leider habe er kein Telefon, aber günstig sei der späte Nachmittag.
     
    Eine ganze Zeitlang konnte ich nicht mit Cora reden, saß nur neben ihr und starrte zum Zugfenster hinaus. Sie sagte auch nichts. Irgendwann ertappte ich mich dabei, daß ich mir einen Skandal in ihrem feinen Elternhaus ausmalte, so sehr schämte ich mich.
    Die nächsten Tage verbrachten wir faul, schliefen lange, gingen ins Schwimmbad oder aßen Eis in der Stadt, bandelten mit anderen Jugendlichen an und kehrten erst zurück, wenn uns die Tante zum Abendbrot erwartete. Dann ließen wir uns Geld fürs Kino aufdrängen und verspielten anschließend den Rest an Flippern und Münzautomaten, obgleich wir uns fast zu alt dafür hielten. Schon bald lernten wir zwei junge Männer kennen, die Semesterferien hatten. Wir luden die beiden zum zwölf-Uhr-Frühstück in die Tantenwohnung ein. Cornelia hatte sich schnell für den Netteren entschieden und ihn in die Küche gelotst, während ich mich mit seinem gehemmten Freund im Eßzimmer langweilte. Aber ich gönnte Cora ihren Spaß und genoß es, daß mich in Hamburg niemand mit »Elefantin« anredete. Innerlich hielt ich unablässig Zwiesprache mit Vater.
    »Weißt du noch, daß ich die Infantin Maja bin und du der König von Spanien? Warum bist du so heruntergekommen? Wer ist Karin? Wie sehen deine Bilder aus?« wollte ich in meinen fiktiven Dialogen wissen. Aber ich ahnte, daß ich beim nächsten Treffen nur nach den Bildern fragen würde.
    Cora war nicht mehr so scharf darauf, nach Lübeck zu fahren, aber sie wollte mich nicht im Stich lassen. Ich versicherte ihr, sie könne ruhig in Hamburg bleiben, aber das fand sie langweilig. Wir hinterließen der Tante einen Zettel, daß wir nicht zum Essen zurück wären, und starteten zum zweiten Besuch.
     
    Fast schien uns Vater erwartet zu haben. Er selbst und sein Ambiente waren merklich aufgeräumter. Aus wenigen Vorräten kochte er ein passables Essen, wobei mich nur die schmuddeligen Teller störten. Gern hätte ich sie heiß abgespült, fürchtete aber, ihn zu kränken.
    Auf meine Bitte zeigte er einige seiner Bilder. Sie waren kleinformatig und ganz anders, als ich sie in Erinnerung hatte. Cora entdeckte mit Kennerblick sofort, daß er nur mit drei Farben auskam.
    »Wie recht du hast«, Vater sah Cora zum ersten Mal intensiver an. »Ich habe aus der Not eine Tugend gemacht. Ihr kennt doch das Märchen: weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz, rot wie Blut... Als ich kein Geld hatte, um Farben zu kaufen, habe ich beschlossen, nur noch mit denen, die ich hatte, auszukommen. Schwarz wie der Tod, weiß wie das Licht, rot wie die Sünde.« Wie in der Schule hörten wir zu. Er fuhr fort: »Die Nazis mit ihrer schwarz-weiß-roten Fahne hatten wahrscheinlich mit Hakenkreuz und weißem Kreis in einem Meer von Blut den richtigen Nerv ihrer Anhänger getroffen. Beim gleichen Motiv in anderen Farben, sagen wir mal Blau, Gelb, Grün, hätten sie nie Erfolg gehabt. Daraus folgt: wenn ihr euch in Schwarz-Weiß-Rot kleidet, werdet ihr viele Verehrer finden.«
    Cora sagte: »Ich will keinen faschistischen Zulauf.«
    Ich war verunsichert. Hatte das kräftige Rot mit seinem Beruf als Blutbote zu tun? Viel später grübelte ich, warum er diese

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