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Die Häupter meiner Lieben

Die Häupter meiner Lieben

Titel: Die Häupter meiner Lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Schuhe wurden in Grau und eine Nummer zu groß gewählt, damit sie zum Cape und im nächsten Jahr noch paßten.
    Eine Lehrerin hörte den Elefantenruf meiner Mitschüler und sah mich in meiner ganzen Tristesse durch den Novembernebel stapfen: »Maja Westermann, solche Scherze geben sich mit der Zeit! Im übrigen solltest du die Kraft eines Elefanten nicht gering veranschlagen; eine starke Frau ist etwas Erstrebenswertes!«
    Aber ich wollte nicht stark sein. Ich hatte mich verliebt, und in meinem Kopf war nur noch für die Liebe Platz. Natürlich war es nicht das erste Mal. Es fing so früh an, wie meine Erinnerung reicht, und das erste Liebesobjekt war mein Vater. Als er mich verließ, hielt ich ein Trauerjahr ein.
     
    Neulich stieg mein früherer Geographielehrer samt Frau in meinen Touristenbus; es waren Osterferien, die er für einen kleinen Bildungsurlaub in Italien verwandte. Seit meinem Abitur vor drei Jahren hatten wir uns nicht mehr gesehen, aber wir erkannten uns sofort, begrüßten uns freundlich und entließen uns gegenseitig unter wohlwollenden Versicherungen. Er ahnte nicht, daß er monatelang das Zentrum meiner Phantasien gewesen war. Einzig Herr Becker und der Traum von einer Karriere als Operndiva verhinderten ein Abgleiten in Depressionen, so grau und verhangen waren Schulzeit und Familienleben. Von diesen beiden Zukunftswünschen war einer unrealistischer als der andere. Übrigens besitze ich noch einen Kamm meines Lehrers, den ich beim einzigen Besuch in seiner Wohnung als Erinnerungsstück mitgehen ließ.
    Er war damals fast dreißig, und ich befürchtete schon, einen Ödipuskomplex zu haben. Über Nacht wurde ich ein Star in Geographie.
    Im Erdkundeunterricht wurden historische, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge betrachtet. Es ärgerte Herrn Becker, daß die meisten Schüler nur den Sportteil und die Kinoanzeigen der Zeitung lasen, Politik und Wirtschaft aber aussparten. Jeden Morgen bekam ich Streit mit Carlo, der mir das Tageblatt hemmungslos wegriß. Als wir im Unterricht über wirtschaftliche Auswirkungen der Dürrekatastrophen im Tschad, Niger und Sudan sprachen, hob ich als einzige der Klasse die Hand. Bevor Herr Becker mich befragen konnte, brüllte jemand: »Kein Wunder, daß sie Bescheid weiß, wo doch Afrika ihre Heimat ist!«
    »Bist du in Afrika geboren?« fragte Herr Becker interessiert und nichtsahnend. Wie eine echte Elefantin stürmte ich unter dem Trompetenschrei meiner Mitschüler hinaus und warf beim Aufspringen zwei Stühle um. Vor der Turnhalle sank ich auf ein Mäuerchen und brauchte meine Papiertaschentücher auf. Dabei hegte ich die Hoffnung, daß mich mein Lehrer suchen und finden würde. Vielleicht konnte ich ihm signalisieren, daß ich eine vorurteilslose Frau war. Aber niemand kam. Später sagte eine Mitschülerin: »Sorry wegen Afrika - wer kann schon wissen, daß du zur indischen Sorte gehörst.«
    Meine Mutter habe ich nie bestohlen, auch wenn ich sie manchmal auf den Mond wünschte. Wir hatten wenig Geld. Von meinem Bruder wußte ich - denn meine Mutter sprach nie darüber -, daß unser Vater zwar gelegentlich etwas überwies, aber unregelmäßig und unberechenbar. Meine Mutter arbeitete als Altenpflegerin, und das war mit Sicherheit der ungeeignetste Beruf für sie. Sie hatte den Lehrgang für Altenpflege absolviert, weil es eine besonders kurze Ausbildung war. Bei ihrer Intelligenz und schnellen Reaktion hätte sie alle Büroarbeiten mühelos erlernen können. Statt dessen pflegte sie mit harten Händen und verschlossenem Herzen alte Menschen, als wären sie ein Stück Holz.
    Nicht nur wegen unserer Armut bestahl ich Mutter nicht. Der eigentliche Grund war, daß ich sie mit unglücklicher, quälender Inbrunst liebte. Je älter ich wurde, desto klarer sah ich, daß sie eine Verletzte war, deren Wunden nicht heilen konnten. Wir trauerten beide auf unsere Weise um den Verlust des Königs, ohne einander helfen zu können. Ich ahnte damals natürlich nicht, wie grausam ich ebenfalls von Vater enttäuscht werden sollte. Ein wenig aber schien auch meine Mutter, die meinen Bruder als Liebesersatz für ihren Mann ansah, an mir zu hängen. Trotz ihrer Bosheiten und ihrer Weigerung, meine Wünsche und Bedürfnisse wahrzunehmen, widersetzte sie sich kräftig meinem Plan, die Schule zu verlassen.
    »Es wird dir einmal leid tun«, war ihr Hauptargument gegen meine Schulmüdigkeit. Das schönste Mädchen unserer Klasse wollte abgehen und eine Lehre in einer

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