Die Häuser der anderen
dieses toten Mahlers zu tun hatte. » Tod in Venedig «, hörte Herwig, und es wurde ihm schwindelig, weil er nun glaubte, innere Stimmen zu hören. Es war doch wohl nicht möglich, dass ausgerechnet diese dumme Schnepfe jetzt mit Sven über dessen Ähnlichkeit zu Tadzio sprach? Herwig war komplett verwirrt. Nach einer Weile teilte sich ihm mit, dass es um etwas anderes ging. Thomas Mann hätte, erzählte diese Mirjam, die Hauptfigur in seiner Novelle, den Schriftsteller Gustav Aschenbach, nach Mahlers Vorbild gestaltet und die Handlung im Jahr 1911, dem Todesjahr Mahlers, angesiedelt. Emmermann war schockiert darüber, dass sie so viel über das Buch wusste. Sein jüngst erst wiederentdeckter Lieblingsroman kam ihm beschmutzt vor. Außerdem ärgerte er sich, dass diese Mirjam dauernd von einer »Novelle« sprach, dabei war er sich sicher, es handelte sich nicht um ein französisches, sondern ein normales deutsches Buch.
Als er der immer dreister werdenden Flirterei zwischen den beiden wirklich nicht mehr zuhören konnte, wandte er einen uralten Trick an. Er zählte im Stillen bis zehn, sagte sich dann »Los« und marschierte nach vorne. Ihr Gespräch verstummte sofort, und niemand sagte ihm, wovon sie gerade gesprochen hatten, was dumm war, denn er konnte schlecht anfangen, ebenfalls über den Tod in Venedig zu sprechen – sie würden merken, dass er gelauscht hatte.
»Wir hatten noch nicht das Vergnügen«, sagte er also grimmig zu Mirjam. »Wir hatten gedacht, Sie machten mal eine Runde im Haus und stellten sich vor.«
Mit »wir« meinte er natürlich Herrn Eisen und sich. Mirjam allerdings dachte für einen Moment, der rotgesichtige Zwerg vor ihr spräche im pluralis majestatis . Da sie keine Anstalten machte, sich zu entschuldigen, begann Emmermann zu erklären, wie das Treppenhaus in drei Gängen – kehren, feucht, trocken – zu reinigen war. Die Haustür müsse aus Sicherheitsgründen abends ab acht Uhr verschlossen sein. Er sprach so herrisch wie immer, war aber innerlich nicht bei der Sache, weil er Svens Deodorant zu riechen glaubte. Also beendete er die Ansprache, kündigte der Frau an, ihr den Plan der städtischen Müllabfuhr auszuhändigen, und eilte dann rasch nach oben in seine Wohnung, wo er sich auf den nächstbesten Stuhl setzte und erst einmal durchatmete. Er bekam nicht mehr mit, wie Mirjam sich kopfschüttelnd an Sven wandte und fragte: »Der ist ja vollkommen gestört, oder?«, und auch nicht, dass Sven nickte und sagte: »Absolut.« Nein, Herwig Emmermann verspürte auf einmal Herzschmerzen und konnte kaum mehr atmen. Und obwohl er fast starb beziehungsweise glaubte, er stürbe, sah er die ganze Zeit die Szene vor sich, wie sich Sven und Mirjam unterhielten. Es hatte etwas von einem Film gehabt. Einem Film, bei dem er der einzige Zuschauer in einem riesigen, leeren Kinosaal gewesen war. Herwig empfand auf einmal barbarische Einsamkeit.
In den folgenden Tagen und Wochen musste Emmermann mit ansehen, wie Mirjam und Sven immer mehr Gefallen aneinander fanden. Sie kamen und gingen zuerst manchmal, dann praktisch nur noch gemeinsam ins Haus, Emmermann fürchtete, sie waren längst intim, so wie sie miteinander scherzten, sich küssten und begrapschten. Sie kennen keinerlei Scham, dachte Herwig, weder vor mir noch vor ihren anderen beiden Mitbewohnern. Die ließen sich kaum jemals blicken; Emmermann war ihnen gegenüber zu gleichgültig, als dass er ernsthafte Antipathie empfand. Er war zu beschäftigt damit, die Entwicklung zwischen Mirjam und Sven zu beobachten. Während er Sven gegenüber, wie er sich einbildete, mehr Toleranz zeigte, weil der Junge so fleißig war, empfand er Mirjam gegenüber blanken, kalten, weißglühenden Hass, Hass, der in seinem Herzen so großen Raum einnahm, dass es schmerzte. Herr Eisen wurde sein Gejammer leid und empfahl ihm, sich beim Arzt durchchecken zu lassen. Doch Herwig Emmermann wusste, dass er viel zu lange im Wartezimmer sitzen müsste. Alles Mögliche konnte währenddessen geschehen. Denn diese Trine Mirjam hatte begonnen, ihre »Arbeit« oder was sie so nannte, in den Garten zu verlegen. Sie hatte es tatsächlich gewagt, eine hölzerne Liege neben Herrn Emmermanns Hibiskus aufzuschlagen und sich daraufzulegen. Dort lag sie stundenlang herum und las. Es war eine Frechheit. Herr Emmermann kam ihr mit der Heckenschere so nahe, dass jeder halbwegs normale Mensch Angst hätte, gleich ein Ohr abgeschnitten zu bekommen, aber sie ließ sich nicht
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