Die Häuser der anderen
sich außerdem vor, dass solche jungen Leute jede Menge Zeitungen und Zeitschriften abonniert hatten, und diese lagen dann morgens im Flur – quasi abholbereit. Ihn schmerzte schon das gute Geld, das er für sein Abonnement von Mein schöner Garten zahlte, das genügte wirklich. Man wusste ja, dass Studenten bis in die Puppen schliefen. Und falls jemand merkte, dass etwas fehlte, konnte er sich sicher sein, dass die wg -Bewohner sich erst einmal gegenseitig beschuldigten. Er sah sich schon die Treppe herunterlinsen, lauschen und dann einen Satz quer durch den Flur machen, sich die Zeitungen schnappen und wieder zurück zur eigenen Tür hechten – er war ziemlich unerschrocken. Im Nachhinein musste man sagen, dass diese Phase der Erwartung eigentlich die schönste in diesem Sommer war. Herr Emmermann schnarchte nachts zufrieden, während sich in seinem Kopf die Bilder seiner künftigen Heldentaten zu kleinen Geschichten summierten, zu schönen Träumen, die er morgens leider allzu schnell wieder vergaß.
In der letzten Augustwoche war es so weit. Herr Emmermann hing am Fenster und beobachtete die Straße. Einem vw -Bus entstieg ein zartes Geschöpf mit goldblonden Haaren, blassem, fast bläulich schimmerndem Teint und einer blauen Reisetasche. Herr Emmermann stürzte fast auf die Straße, um die Unterhaltung des jungen Mannes mit dem Fahrer des Busses mitzuverfolgen. Obwohl er nichts verstand, hätte er die Szene um nichts in der Welt verpassen wollen: Das, wunderte er sich, sollte ein Student sein? Er musste ein ums andere Mal schlucken. Unmöglich, sich vorzustellen, dass dieses überirdische Wesen so etwas Profanes tat wie beispielsweise Müll trennen. Dass es überhaupt welchen produzierte. Er war hingerissen. Der junge Mann schien alle Zeit der Welt zu haben, wie er lässig, die Hand in die Hüfte gestemmt, mit dem Fahrer plauderte, der seinen zwar ebenfalls blonden, aber doch völlig gewöhnlichen Kopf aus dem Autofenster hängte. Der neue Mieter war, was den Ausdruck auf seinem Gesicht anging, noch fast ein Kind – wie Titus oder Timo oder wie der engelsgleiche Knabe in Thomas Manns Tod in Venedig hieß. Emmermann hatte den lange nicht mehr zur Hand genommenen Roman tatsächlich noch vage in Erinnerung, weil es die einzige Schullektüre gewesen war, die ihn vor über dreißig Jahren angesprochen hatte. Noch am selben Abend begann er, unter den wenigen Büchern zu kramen, die sie besaßen, und wurde fündig. Tadzio hieß der Junge. Er begann, den Studenten heimlich so zu nennen. Es schwante ihm, dass er dem schönen neuen Mieter kaum erklären konnte, wieso er seine Toilette mitbenutzen wollte, ohne fürchterlich rot zu werden. Vielleicht sollte er seinen Plan ändern. Zwar hatte er erst einmal den Einzug sämtlicher neuer Nachbarn beobachten wollen, bevor er überhaupt in Erscheinung trat – er hatte das schwächste Glied der Gemeinschaft ausmachen wollen, um es separat von allen anderen in die Mangel zu nehmen –, aber jetzt schien es ihm das Beste zu sein, sich erst einmal demjenigen vorzustellen, der schon da war. So konnte er mit Tadzio sprechen.
Herr Emmermann musste nicht lange klingeln, bis die Tür aufgerissen wurde.
»Oh«, sagte der junge Mann enttäuscht, »ich dachte, es sind meine Sachen. Der Umzugswagen, wissen Sie.«
Emmermann rührte sich nicht. Er war verwirrt und dachte etwas wie: Nein, ich bin kein Umzugswagen. Als er endlich sprechen konnte, stellte er sich vor und fragte den jungen Mann etwas zusammenhanglos, was er studiere.
»Musik. Ich heiße Sven. Sven Merano.«
»Wie das Glas«, bemerkte Herr Emmermann feinsinnig. Er lächelte, stolz, seine Geistesgegenwart wiedererlangt zu haben.
»Ja, na ja, fast«, sagte Sven mit gerunzelter Stirn, da er nicht wusste, ob der Mann sich verhört hatte oder einfach dumm war. Ihm fiel auf, wie unangenehm der neue Nachbar anzusehen war, mit diesen unappetitlichen Füßen, die er in einer Art offener Römersandaletten zur Schau stellte. Sein Blick war unverkennbar lüstern. Sven bemühte sich, freundlich zu bleiben; er konnte es mit seinem Selbstbild nicht vereinbaren, schwulenfeindlich zu sein. Seit Jahren quatschten ihn genauso häufig Männer wie Frauen an – er sollte es gewohnt sein.
Herr Emmermann verbreitete sich jetzt darüber, wie ausgezeichnet es Sven in diesem Hause gefallen werde. Dabei schlüpfte seine linke Sandale so zwischen Tür und Rahmen, dass der neue Nachbar ihn nicht einfach aussperren konnte.
»Haben Sie vielen
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