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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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an das alte, wirkliche Leben ausgelöst, nein, in diesem einen Moment war die Vergangenheit das Jetzt gewesen: sichtbar, spürbar, heutig und wirksam.
    Jetzt freilich, da Ivo vom Baum stieg, war die Vergangenheit längst wieder ins Vergangene, ins Verlorene zurückgefallen. Aber die Liebe, die Ivo für Lilli empfand, war ungebrochen. Denn auch Tote, auch Leute mit Pfeilen in ihren Brüsten, können lieben.
    Â 
    Man machte sich auf den Weg, den Lärchenwald zu verlassen. Dr. Ritter ließ man liegen. Fontenelle erklärte, sich später darum zu kümmern. Eine Leiche könne warten. Zuerst einmal würde sie sich bemühen, die Ewenken dazu zu überzeugen, Lilli freizulassen. Und es war gar keine Frage, daß man dem Wunsch der Meisterin des Lärchenwaldes und der Fliegenpilze entsprechen würde. Um so mehr, da ja Kallimachos überhaupt nicht daran dachte, ebenfalls nach Europa zurückzukehren. Im Gegenteil, mit Galina hatte er eine neue Frau an seiner Seite, eine, die noch besser zu ihm paßte als Lilli.
    Richtig, auf diese Weise würde Professor Oborin seine Tochter verlieren. Aber so waren die Dinge nun mal angelegt.
    Noch einmal richtig: Lopuchin würde toben, wenn er erfuhr, daß Ivo Berg unverrichteter Dinge Toad’s Bread verlassen hatte, ohne Schatulle, auch ohne Baum, alles belassend, wie es war. Und weder der Tod Romanows noch der Dr. Ritters könnten Lopuchin helfen, ein wenig Freude zu empfinden. Er würde toben und toben. Und aus der Wut heraus neue Pläne schmieden. Aber im Endeffekt würde auch er begreifen müssen, daß das Ohr verloren war. Verloren in seiner natürlichen Unsichtbarkeit. Verloren in einem Wald, der mit einer Macht ausgestattet war, die mit größter Ruhe die Dinge und Menschen und Pilze beherrschte.
    Es war Abend geworden. Die Vögel sangen ihre Einschlaflieder. Die Pflückerinnen brachten ihre Ernte ein. Lilli überlegte, ob das vielleicht der richtige Platz sein könnte, um die Fellpuppen – die beiden Ongghots in ihrer Tasche – im Wald abzulegen. Denn schließlich waren die beiden toten Frauen Pflückerinnen gewesen. Dann aber fiel Lilli ein, daß die eine Tote, Valerija, offenbar davon geträumt hatte, in den Westen zu gehen, um ein Model, ein Star zu werden. Und daß auch der Kunstname »Jola Fox« eine gewisse Sehnsucht nach der Westwelt nahelegte, der Glitzerwelt, wo alles, auch der Dreck der Straße, den süßlichen Charme eines Swarovski-Schlüsselanhängers besaß. Ja, die Westwelt war eben mehr ein Anhänger als ein Schlüssel. Wie auch immer, Lilli beschloß, die Puppen mit nach Europa zu nehmen und darauf zu warten, bis ein besonderer Ort sich anbot, die Ongghots totemartig zu plazieren.
    Madame Fontenelle begab sich zurück in ihr Büro, wo sie einer geheimen Leidenschaft, dem Alkohol, folgte. Das geheime Trinken mag vielerorts als Ausdruck einer speziell weiblichen Krankheit verpönt sein, vom Standpunkt der Würde ist es sehr zu empfehlen. Denn das Saufen in der Gruppe ist wie der Gruppensex: eine Unart, die der Schöpfung widerspricht.
    Während also die Madame den Deckel einer hübschen Karaffe aus Kristallglas lüftete und einen mit Fliegenpilzstückchen versetzten Likör sich einfüllte, gelangte die kleine Familie hinauf ins Museum, zurück ins Schwarzweiß, zurück in die Stadt, die in der Nacht versank. Man steuerte das Hotel an.

23
    In der Lobby angelangt, erklärte Lilli: »Ich habe noch was zu erledigen.«
    Â»Darf ich dich begleiten?« fragte Ivo.
    Lilli nickte. Vorher aber brachte sie Spirou zu Bett. Spirou konnte sich nicht erinnern, je ins Bett gebracht worden zu sein. Als Baby war er wohl ins Bett gelegt worden, später ins Bett gefallen, todmüde vom Tag und vom Leben, aber so richtig gebracht zu werden … Ja, Lilli, die bekanntermaßen einen guten Schlaf zu schätzen wußte und überzeugt war, zum guten Schlaf gehöre ein gutes Einschlafen, erzählte Spirou, dem Dreizehnjährigen, eine Gutenachtgeschichte. Sie war geschickt darin. Eine Geschichte über einen Planeten, der sich ständig wegbewegt, wenn man sich ihm nähert. Unabänderbar. Und daß die Astronauten irgendwann begreifen, wie wichtig es ist, etwas zu haben, was man nicht haben kann. Es hörte sich an, als sei Lilli dabeigewesen.
    Als Spirou schlief, verließ sie das Zimmer und traf Ivo

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