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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Kerl gehört habe. Aber es wird ihm ohnehin nicht gelingen, je wieder nach Toad’s Bread zu gelangen. Er wurde verbannt, und dabei bleibt es.«
    Ivo entgegnete, daß immerhin er selbst sowie die anderen aus der Gruppe ohne jede Kontrolle in die Stadt gelangt seien.
    Â»Glauben Sie mir«, meinte Fontenelle, »wären Sie nicht willkommen gewesen, stünden Sie jetzt nicht hier. Der Sinn der Kontrolle ist ja wohl kaum, daß jeder sie sehen kann. Das ist wie bei gewissen Ohren. Man könnte sagen, die Kontrolleure von Toad’s Bread stehen nie im Regen.«
    Â»Sie sollten aber nicht vergessen«, blieb Ivo stur, »daß ich nicht zuletzt im Auftrag Lopuchins mich an diesem schönen Ort befinde. In seinem und in dem einer deutschen Firma.«
    Die Madame schüttelte stumm den Kopf. Es war Lilli, die an Ivo herantrat und die Schatulle – ohne sie ihm aus der Hand zu nehmen – schloß. Dann gab sie ihm einen Kuß auf die Wange, genau auf die Stelle einer kreisförmigen Anordnung kleiner Narben.
    Wieviel war ein Kuß auf dieser Welt wert? Etwa im Vergleich zu surreal hohen Bonizahlungen? Im Vergleich zu all den Produkten im militärischen und privaten Bereich, die sich aus einer optimalen Tarnvorrichtung entwickeln ließen? Im Vergleich zu den revolutionären Erkenntnissen, die man aus einem autark existierenden Gehörorgan gewinnen könnte? Im Vergleich zur persönlichen Sicherheit, die sich daraus ergab, einem Herrn Lopuchin das zu bringen, wonach er begehrte? Im Vergleich zur Bezahlung ausgeführter Aufträge, was auch immer von diesen Aufträgen zu halten war? Im Vergleich …
    Konnte man einen solchen Kuß, einen Lillikuß, überhaupt mit irgend etwas vergleichen? Das war natürlich eine pathetische Frage. Aber Ivo stellte sie sich trotzdem. Das Pathos zwang ihn, sich diesen Lillikuß als die ultimative Antwort auf alle Fragen zu denken. Und im Gegensatz zu Wittgenstein, der einst erklärt hatte, dank seines Tractatus die Probleme im wesentlichen endgültig gelöst zu haben, dann aber abschließend postulierte, es zeige sich, »wie wenig damit getan ist, daß die Probleme gelöst sind«, im Gegensatz dazu also meinte Ivo Berg den hohen Grad der Problemlösung zu begreifen, der sich aus der Wirkung dieses Kusses ergab.
    Er sagte: »In Ordnung.« Er hauchte es nicht, sondern sprach klar und deutlich. Er verzichtete somit auf eine Verarschung des Pathos und ging statt dessen daran, erneut den Baum hochzuklettern. Mit der üblichen Gewandtheit gelangte er an die Stelle nahe der Krone, wo er die Schatulle in die angestammte Stelle fügte. Es war, als schließe er eine Wunde.
    Â»Ist das denn klug?« fragte der Baum.
    Â»Du meinst, den weiten Weg zu machen, um jetzt alles beim alten zu lassen?«
    Â»Nein, ich frage mich nur, ob es nicht sinnvoller wäre, ein neues Versteck zu finden. Eines, das dieser Lopuchin nicht kennt.«
    Â»Stimmt, das wäre vernünftig. Andererseits ist es doch so, daß Lopuchin genau das Richtige getan hat. Dieser Platz ist perfekt: das Ohr unsichtbar in der Schatulle, die Schatulle im Baum, der Baum unter der Stadt, die Stadt unter der Erde.«
    Â»Ein anderer Baum würde es auch tun«, wandte der Baum ein.
    Â»Stimmt«, sagte Ivo, »aber dann würde hier eine Lücke bleiben.«
    Â»Man könnte eine zweite Schatulle anfertigen.«
    Â»Ja, doch das wäre ein Betrug.«
    Â»So ehrlich?«
    Â»So ehrlich«, sagte Ivo, drückte mit der Hand gegen den Korpus, so daß die Unterseite in die Halterung einklinkte und sich an der Oberfläche die alte Einheit von Baum und Artefakt ergab. Die Ordnung war wiederhergestellt. Man konnte diese Ordnung geradezu spüren. Wozu auch zählte, daß Dr. Ritter tot war, ein zweites Mal gestorben, denn auch er war selbstverständlich mit einem Pfeil in der Brust durch die Gegend gelaufen. Sein wirkliches Leben hatte er schon vor vielen Jahren beendet gehabt, damals in Ungarn, als er noch bei seiner Familie gewesen war. Man konnte sagen, die Kugel aus Galinas Pistole hatte Dr. Ritter erlöst.
    Nun, bekanntermaßen waren auch Lilli und Ivo mit derartigen Pfeilen ausgestattet, Pfeile, die da so unsichtbar wie ein gewisses Ohr aus ihren Brüsten ragten. Aber im Augenblick des Kusses, als Lilli ihre Lippen auf Ivos Narbe abgelegt hatte, hatte dies nicht bloß eine schöne Erinnerung

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