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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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laufend umgedreht werden muss. Nur der Vater geht wie ein Metronom – sachlich und stetig, mit einer unwirklichen Regelmäßigkeit in den Bewegungen, die andere Menschen einen Schritt zur Seite treten lässt. Um ihn bildet sich ein unsichtbares Kraftfeld, das Männer nicken und Frauen lächeln lässt.
    Früher betrachtete der Sohn diese Reaktionen als Symptome des Dr.-Schiwago-Syndroms. Fremde wussten ja nicht, wer der Vater war. Aber die Mütze und der Bart, den er zeitweise trug, ließen ihn in den Augen der Menschen wenn schon nicht bekannt, so doch prominent aussehen. Sicherheitshalber grüßten sie ihn. Der Gipfel des unberechtigten Ruhms wurde im Wien der siebziger Jahre erreicht. Eines Tages besuchten die Eltern ein Museum, in dem sich zufällig auch Bruno Kreisky aufhielt. Vielleicht eröffnete der österreichische Bundeskanzler gerade eine Ausstellung. Als er den Vater entdeckte, marschierte er quer durch den Saal und schüttelte ihm enthusiastisch die Hand. Später lachte der Gegenstand der Aufmerksamkeit über den Vorfall, aber ein Teil von ihm konnte nie ganz das Gefühl abschütteln, er habe sie verdient.
    Zehn Meter voraus biegt der Vater in ein Gässchen. Das Warenangebot wechselt nun von T-Shirts zu Schraubenschlüsseln und Toilettenbürsten in Zellophanhüllen. Statt die Besucher von ihren wertvollen Waren zu überzeugen, sitzen die Verkäufer breitbeinig auf Plastikstühlen, rauchen oder lassen die Perlen der kombolói durch ihre Finger gleiten. Von ihnen einen Preis genannt zu bekommen erfordert Hartnäckigkeit. Kurz bevor sie ein Geschäft erreichen, vor dem Waschmaschinen stehen, holt der Sohn den Vater ein. Auf einer Leiter steht ein Mann von etwa sechzig Jahren in schlabbriger Hose und Strickjacke. Er hängt gerade einen Toilettendeckel auf. Als er den Besucher erblickt, strahlt er. » Afendikó! « Sie grüßen und bleiben, die Hände um die Ellbogen des jeweils anderen geschlossen, stehen.
    Als der Sohn vorgestellt worden ist, glaubt er, der Moment für die Enthüllung sei gekommen, doch der Verkäufer pfeift nur einen Gehilfen herbei, der um die Ecke Kaffee holen geht. Während die Männer Neuigkeiten austauschen, mustert der Sohn das Geschäft. Ein weißes Emailschild wird von einem kretischen Nachnamen geziert, durch die offene Tür erkennt er, dass der Verkaufsraum weiß gestrichen ist. Im Fenster steht ein Kühlschrank, darauf liegen Badezimmerkacheln, von der Decke hängen Kabel herab. Auch das meiste, was im Laden verkauft wird, scheint weiß zu sein. Der Mann muss einer griechischen Filiale der Arktis vorstehen.
    Als sie ausgetrunken haben, schlägt sich der Verkäufer auf die Knie. »Herr Michael ...« Er geht, einen nachdenklich wackelnden Zeigefinger hochhaltend, hinein. »Ich weiß schon, warum Sie hier sind.« Lachend schiebt er einige Kartons zur Seite. Er räumt und murmelt, es klirrt wie Glas. Als er wieder hinaustritt, hält er eine Miniaturouzoflasche in der Hand. Der Vater lächelt mit einer Miene, die der Sohn kennt: So sieht er aus, wenn er sich über die Verrücktheit der Menschen freut, sich gleichzeitig aber auch über sie lustig macht. Konzentriert leert er das Fläschchen. Während er sich für das Elixier bedankt, kämpfen seine Gesichtszüge darum, ernst zu bleiben.
    Auf dem Heimweg berichtet der Vater, dass der Mann von Kreta stammt. Seine Schwester schickt ihm regelmäßig Wasser aus einer Quelle in den Bergen, von der es heißt, sie habe wundertätige Eigenschaften. Er ist selbst einmal dort gewesen. Er zuckt mit den Schultern, erkundigt sich dann, wie der Sohn das Geschäft fand. Der Sohn erklärt, dass es ihn an die Szene in Doktor Schiwago erinnert habe, in der Jurij und Lara die Sommerresidenz in Varykino besuchen. Der Schlitten fährt zwischen Bäumen, bis er vor einem in Weiß gehüllten Gebäude hält. Fenster, Veranda, Zwiebeltürme – alles ist schneebedeckt. Als sie die Tür öffnen, sehen sie, dass es hereingeschneit hat. Die Möbel ruhen unter weißen Decken, in den Fluren liegen Schneewehen. Die Stühle haben sich in Stalagmiten verwandelt, der Kronleuchter ist eine riesige Flocke. Sie treten in einen Palast aus Frost.
    Der Vater erinnert sich nicht an die Szene, meint sich jedoch zu entsinnen, dass der Film in Spanien gedreht wurde. Bei dreißig Grad Hitze. Es hätte ebenso gut Griechenland sein können. Der Schnee war bloß Marmorstaub.

Eingeschneit

    Der Eispalast in Doktor Schiwago ist ein Sinnbild für die gefrorene Zeit. Vielleicht auch

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