Die halbe Sonne
politische Theorie oder Mythologie, und er ist sich auch nicht zu schade für eine anständige Fauna oder Bücher für wissbegierige Kinder zwischen zehn und fünfzehn. In den letzten Jahren sammelt er eine Enzyklopädie in über vierzig Bänden, die Leser einer großen Tageszeitung erwerben können, wenn sie in der Wochenendbeilage Kupons ausschneiden. Als die Ausgabe komplett ist, geht er zu Heften über orthodoxe Heilige über, die eine zahnlose Bulgarin am Eingang zum Park verkauft. Und als seine Tochter eine Stelle im Kulturministerium antritt, kann er endlich seine Sammlung archäologischer Führer vervollständigen.
Keine dieser Schriften wird im eigentlichen Sinne gelesen. Aber das ist auch nicht vorgesehen. Solange die Nachschlagewerke in den Regalen hinter seinem Rücken stehen, hat er Zugang zu ihrer Gelehrsamkeit. In ihnen ist das Wissen gesammelt, und es führt ein Eigenleben. Der heilige Ambrosius von Optina kann ohne weiteres neben der heiligen Angelina von Serbien landen, obwohl nicht nur tausend Kilometer, sondern auch dreihundertfünfzig Jahre zwischen ihnen liegen. Und so erscheint es auch ganz natürlich, dass ein Programmheft des Kirow-Balletts in Leningrad auf einem Jahrbuch des Freilichtmuseums Kulturen in Lund liegt. Es geht nicht um Ordnung, sondern um Zusammenhänge. Die Regale sind der Tabernakel des Vaters, der Schreibtisch ist sein Altar. Wer weiß schon, welche heiligen Verbindungen Schaden nähmen, wenn die Bücher nach allen Regeln der Bibliothekskunst sortiert würden? Oder wenn man den Wecker ins Schlafzimmer zurückstellte?
Eine Filiale der Arktis
An einem Wintertag zieht der Vater seine Uhr auf, dann erklärt er, dass er etwas zeigen möchte. Während er wartet, bis sein Sohn aufbruchsbereit ist, sucht er seine russische Mütze heraus. Anschließend machen sie sich auf den Weg.
Es ist Sonntagvormittag, die Avenue liegt bis auf vereinzelte Taxis verwaist. Da sie sich Richtung Stadtzentrum bewegen, fragt sich der Sohn zuerst, ob der Vater ihm das Gymnasium zeigen will, das er besuchte, nachdem er sein Heimatdorf verlassen hatte, sodann, ob er vorhat, ihn in diesem Lokal am Omoniaplatz, in das sie in früheren Jahren gingen, zu bougátsa einzuladen. Aber sie lassen sowohl die Schule als auch die heruntergekommenen Arkaden hinter sich und gehen weiter zum Basar in Monastiraki. In dem Jahr, das der Sohn als Neunzehnjähriger in der Stadt verbracht hat, bewegte er sich beinahe täglich in diesen Vierteln. Hier kennt er jede Straße und Abkürzung. Da drüben hat er seine Unterhemden gekauft, dort erwarb er den Wasserschlauch für die Dusche, der auch als Toilettenspülung diente. Der Mann, der Fußballtrikots und Militärkleidung verkauft hat, hängt seine Waren immer noch in vier Reihen an Bügeln vor sein Geschäft, aber das Schaufenster, vor dem der Sohn stets langsamer wurde, weil es in der Auslage verlockend komplizierte BHs und Nylonstrümpfe so dünn wie Libellenflügel präsentierte, ist einem Architekturbüro gewichen.
Je näher sie dem Basar kommen, desto belebter werden die Straßen. Die Touristen sind anders als im Sommer – älter und besser gekleidet, häufig mit archäologischen Handbüchern unter dem Arm. An der U-Bahn-Station verkauft ein älteres Paar geröstete Maiskolben, Albaner verhökern Krimskrams, und ein Leierkastenmann versucht auszusehen, als käme er geradewegs von einer Versammlung, bei der die junge Republik Kapodistrias zum Präsidenten gewählt hat. Mit einer fadenscheinigen Redingote und einer speckigen Krawatte bekleidet, ähnelt er einem verarmten Edelmann. Der Vater nickt zu seinen Füßen hin. Der Mann trägt dicke Wollstrümpfe in Plastikschlappen. Sie spazieren weiter durch die Gassen, vorbei an Stapeln von LPs, Gipsgöttern und vergilbten Lehrbüchern der Hydrologie. Der Sohn weist auf das einzige Antiquariat in dieser Gegend hin, das diesen Namen verdient, zweihundert Regalmeter in einem Keller, in dem er regelmäßig nach Raritäten von der Jahrhundertwende gesucht hat, aber der Vater lächelt nur. Sein Blick besagt, dass es Besseres gibt als Erstauflagen von Kostas Kariotakis.
Sie navigieren durch das Gedränge. Wenn er den Vater verliert, genügt es, stehen zu bleiben und den Blick auf nichts Bestimmtes zu richten. Nach einer Weile tritt im verschwommenen Blickfeld eine Kontur hervor, die ruhig und entschlossen geht. Andere Gestalten bewegen sich schnell oder ruckartig: Die eine hat eine Stoppuhr als Herz, die andere eine Sanduhr, die
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