Die halbe Sonne
mehr an tropische Blumen oder Latin Lover sondern an Eierschalen, Bergrücken, getrockneten Lehm.
Irgendwie scheint der Vater kleiner zu werden. Nicht in der augenfälligen Weise, dass er Gewicht und Autorität verliert und ihm die Kleider zu groß werden. Er scheint vielmehr als Ganzes einzulaufen wie ein Pullover. Auch der Kopf – dieser »grandiose Schädel«, über den sich lachend eine seiner Schwiegertöchter beschwert, weil es so schwierig ist, ihn auf ein Foto zu bekommen. Die Wangen, das Kinn, die Stirn mit dem zurückgekämmten Haar ... Alles scheint jetzt eine Nummer kleiner zu sein.
Mehr als alles andere macht den Sohn diese Entdeckung traurig. Er hat das Gefühl, dass sich der Vater unumkehrbar verwandelt. Sein Gesicht ähnelt immer mehr einer geologischen Formation. Wenn der Sohn ihm über die Stirn streicht, merkt er, dass er Wiegenlieder singen möchte. Als wollte er die Verwandlung erleichtern. Als wollte er den Vater zu Sand, Wind, Verwitterung singen.
Später
DER GESTERBTE: Versteh mich bitte nicht falsch. Aber wenn du nicht willst, dass ich ende, gibt es nur einen Weg. Sorge dafür, dass ich gewusst habe, dass ich wirklich bin.
Flora für Ausländer
GRAS. Der Vater überlegt und erkennt, wenn er seine Kinder liebt, muss er sie behandeln wie Gras. Sie sollen gedüngt und regelmäßig geschnitten werden, Unkraut muss man jäten und Wühlmaushügel beizeiten platt treten. Nur dann werden sie glaubensfest, belastbar, aber trotzdem biegsam. In Anbetracht des fremden Nährbodens ist jedoch ständige Pflege erforderlich.
PINIENNADELN. Eine Piniennadel ist alles, was der Vater benötigt, um das Schloss zur Vergangenheit aufzubrechen. »Schaut«, sagt er zu seinen Kindern und schiebt die Tür auf. Anschließend steckt er sich die Nadel lächelnd in den Mundwinkel. Der nächste Schritt ist ihre Sache.
BIRKENBLÄTTER. Es ist ungewiss, ob der Vater Birkenblätter identifizieren kann. Birkenblätter gehören zur Welt der Kinder. Dort erfüllen sie die gleiche Funktion wie Feigenblätter in anderen Regionen.
FEIGENBLÄTTER. Der Vater weiß, dass Feigenblätter bemänteln. So kann man zwei, drei Blätter von einem Ast abreißen und sie sich symbolisch vor den Mund halten. Manche Dinge lassen sich dann leichter sagen.
ZYPRESSENNADELN. Wenn der Vater sieht, dass sich seine Sprösslinge wie die einheimischen Kinder benehmen – faul, quengelig, betont lässig –, versetzt es ihm einen Stich in der Brust. Die Vorahnung der Zypressennadel von der Hölle.
OLIVENKERNE . Für den Vater ist der Olivenkern das, was dem Paradiesapfel am nächsten kommt. Hart und spulenförmig zeigt er mit seinen verbliebenen graugrünen Unebenheiten, dass der Garten Eden untauglich geworden ist. Bleibt nur übrig, Gras auszusäen.
Übersicht
Für den Vater ist Übersicht nicht gleich Ordnung. Am deutlichsten wird der Unterschied in der Bibliothek. Am Schreibtisch opfert er höheren Mächten, aber Stifte und Büroklammern treiben eher wahllos umher. Die von ihm so geliebten linierten Hefte mit Plastikumschlägen, die eigentlich an Schulkinder verkauft werden, liegen auf einem Stapel, auf dem ein Wecker ruht. Wer in ihnen blättert, macht zwei Entdeckungen: zum einen, dass sie wüst durcheinanderliegen, zum anderen, dass er von vorne und von hinten schreibt – das eine Mal die ersten zwanzig Seiten in ein Heft hinein, das nächste Mal in umgekehrter Richtung. Im Stifteständer findet man niemals Schreibwerkzeuge, sondern eine Feder, eine seit zwanzig Jahren nicht mehr benutzte Pfeife, einen Rosenkranz, einen Teelöffel. Auf dem Tisch liegen Zeitungen in verschiedenen Stadien der Zerfledderung. Und die schwedische Schreibmaschine ist mit Pullovern und einer Krawatte bedeckt.
In den Bücherregalen, wo sich Stalagmiten den Platz mit Kalendern der staatlichen griechischen Tourismuszentrale teilen, stößt der Sohn auf das Allerheiligste: die Nachschlagewerke. Der Vater bevorzugt zwar Poesie – Prosa und Essays interessieren ihn weniger –, aber der Buchkäufer in ihm hat seine größte Schwäche für Lexika. Den Bücherschlussverkauf, von dem er mit leeren Händen zurückkehrt, gibt es nicht. Er mag zwar Tausende Kronen ärmer sein, ist dafür aber auch um dreißig Kilo Gelehrsamkeit reicher. Anatomische Atlanten und Werke zur Geschichte der Medizin nehmen die meisten Regalböden ein. Die Wörterbücher decken Sprachen ab, die der Vater nie gesprochen hat und wohl nie lernen wird. Man findet allerdings auch Werke zum Thema
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