Die halbe Sonne
seinen Schultern. Der Sohn weiß nicht mehr, wer der Chef ist.
Die Walnuss
Zehn Jahre später stirbt der ältere Bruder während eines nachmittäglichen Schäferstündchens mit seiner Geliebten an einem Herzinfarkt. In diesem Sommer ist er jedoch ein erfolgreicher Textilfabrikant, der seinen jüngeren Bruder als Vertreter eingestellt hat. Die Männer bleiben zwei Wochen und verbringen diese Zeit im Gespräch mit dem Vater – entweder auf der Terrasse oder am Küchentisch.
»Ich weiß, dass es noch weh tut«, erklärt der ältere, während er seine Krawatte löst und nach Worten sucht, »obwohl es vor langer Zeit passiert ist ...« Der Vater spürt sein Herz klein und hart werden, eine Walnuss. Er ahnt, was nun kommt, und dass die Worte ihn wie üblich schützen werden, trotzdem überrascht es ihn, wie tapfer er in den letzten zwanzig Jahren versucht hat zu vergessen, warum er sein Heimatdorf verlassen musste. Er ist froh, dass seine Frau in der oberen Etage ist, um ins Bett zu gehen, und die Kinder schon seit ein paar Stunden schlafen. Während der Bruder tastend anfängt, über den Cousin zu sprechen, dessen Name nie ausgesprochen wird, denkt er an die lange Zugreise nach Athen. Wieder sitzt er auf der Bank in dem Wagen zweiter Klasse, wieder schaukelt die Stofftüte mit Tomaten in dem Netz darüber. Unter dem Sitz liegt der Teppich, den seine Mutter ihm gut verschnürt mitgegeben hat, darauf ruht der Koffer. Darin liegen zwischen einigen Pullovern und einem der abgetragenen, nach Lavendel duftenden Anzüge seines Vaters, im übrigen ein Foto und eine Ikone. Die Ikone hat er von den Eltern des Cousins bekommen, auf dem Foto lachen zwei Wagemutige, einen Arm um die Schultern des anderen gelegt, mit zusammengekrallten Zehen auf einer Klippe balancierend. Gleich werden sie springen, und einer der beiden hat noch zehn Jahre zu leben.
Als der Bruder seine Zigarette ausdrückt, erwähnt er die Schwester des Cousins und sagt: »Sie lässt dich wie immer grüßen. Hat gerade einen Griechen vom Schwarzen Meer geheiratet. Würde sich wünschen, dass du öfter schreibst.« Im Vater platzt etwas, beginnt durchzusickern. Als enthielte die Walnuss Flüssigkeit.
Steht einfach da
Als die Brüder abgereist sind, geht der Vater zum See hinunter und steht einfach da. Er hört eine Motorsäge, die sich in fernes Holz frisst, er sieht die Schwalben das Wasser aufritzen und denkt an lautlose Kratzer in Glas. Er nimmt den Geruch des Komposthaufens beim Nachbarn wahr, der in Schlieren heranweht, und denkt an abgesengte Felder in den Herbsttagen seiner Kindheit. Vergeblich sucht er nach dem Duft rußiger Erde. Ebenso wenig hört er die knatternden Schüsse in den Zweigen. Eine Spinne krabbelt über schwarzes Gummi, das Erdreich quakt. Doch der Vater steht einfach da, mit weit aufgeschlagener Brust.
Und ich lernte, und ich lernte
Auf dem Weg zum Haus hinauf ruft der knisternde Kiesweg dem Vater kleine, durch einen Park rollende Räder in Erinnerung. Das ist nur sechs Jahre her, gefühlt jedoch ein Leben. Seine Frau hatte ihn hinausgeschickt, damit sie packen konnte. Nun lehnte er sich über den Wagen. Hinter ihm schien blass und papieren die Sonne. Ihr erstes Kind schrie sich gerade die Lunge aus dem Hals, verstummte jedoch abrupt, als der Schatten des Vaters auf sein Gesicht fiel und es spürte, wie sich seine Hände um die strampelnden Füße schlossen. Der Vater sagte etwas, was das Kind unmöglich verstehen konnte. Er wusste, es würde viele Jahre dauern, bis es Worte dieser Art lernen würde. Noch ahnte es nicht einmal, dass sie fremd waren. Oder was Sonne und Auge und versengte Erde in Apfelsinenhainen bedeutete. Alles, was ihr erstes Kind hören konnte, war die Wärme in seiner Stimme. Der Vater dachte: Du ahnst es nicht, aber du lehrst mich gerade, dass eine Stimme schützen muss, lange bevor die Worte eine Bedeutung bekommen.
Auge, Apfelsine, Zwischenmahlzeit
Der Vater verlässt seine Jungen am Esszimmertisch. In der ersten Viertelstunde schreiben sie die Vokabeln möglichst sorgfältig ab. In der zweiten bewegen sie die Zunge vom einen Mundwinkel zum anderen. In der dritten beginnen sie, sich zu streiten. Den älteren nervt es, dass der jüngere die Fersen gegen die Stuhlbeine schlägt. Außerdem kaut er auf seinem Stift herum, singt vor sich hin, redet mit einem eingebildeten Freund und versucht den Blick der Mutter auf sich zu ziehen, wann immer sie vorbeigeht. Nicht einmal ein Ellbogen in die Seite veranlasst ihn
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