Die halbe Sonne
fragen, woher der Mann kommt. Er sieht, dass dies kein Patient, sondern ein Grieche ist. Sie geben sich die Hand. Die des Mannes ist jedoch seltsam schwach, als wäre er bereit, sie abzugeben. Diese Hilflosigkeit führt dazu, dass der Vater ihn umgehend ins Herz schließt. Am Abend nimmt er ihn mit nach Hause. Ein halbes Jahr wohnt der Mann in dem Atelier, das sich seine Ehefrau gerade erst neben dem Heizungskeller eingerichtet hat. Bis der Vater einen Job für ihn gefunden hat, arbeitet er im Garten – schaufelt Schnee, harkt das Laub vom Vorjahr, schneidet das Gras. Zum ersten Mal kommt den Söhnen zu Ohren, dass man sein Heimatland auch aus anderen als politischen Gründen verlassen kann.
Die Abende verbringt man am Küchentisch. Die Männer sprechen über Kinder- und Jugendjahre, diskutieren die Krisen im alten Land und die Arbeitsverhältnisse im neuen. Am liebsten untersuchen sie jedoch die Anatomie der Sehnsucht. Der Landsmann hat die ungewöhnliche Fähigkeit, Ruhe einzuflößen. Er ist athletisch und neugierig, ungebildet, aber wissbegierig. Kopfschüttelnd erklärt er beispielsweise, dass er nicht sagen kann, wo ein Mensch endet und ein anderer beginnt. Sie sind wie Wasser in Wasser. Er berichtet über die Eigenschaften der Schreibtafel und seine Jahre in der Schule, als handelte es sich um Staatsgeheimnisse. Alles, was er tut, hat etwas Sanftes und dennoch Muskulöses, eine Selbstverständlichkeit, die, wie der Vater ahnt, mit seinem Glauben zusammenhängt, dass Menschen aus anderen Menschen bestehen. Obwohl der Vater Dinge erreicht hat, von denen sein Landsmann nur träumen kann, ist es, als lernte er gerade wieder zu gehen. Wenn jeder Mensch ein Haus ist, denkt der Vater, als er an diesem ersten Abend das Licht löscht, hat er soeben einen neuen Keller bekommen.
Kann Hilflosigkeit schaffen, was Wissen nicht vermag?
Wo Vokabeln und Kindermädchen auf Granit beißen, hat der Kellergrieche Erfolg. Der Vater kann sich nicht erklären, wie das möglich ist oder warum die Söhne ihn so bewundern. Aber sie preisen seinen geschickten Umgang mit Schlittschuhen und Rasenmähern, sie singen den Lobgesang seiner Muskeln und seines Lachens, sie geben jeden Zug in den Krocketpartien wieder, die der Landsmann mit solch diebstahlsicherem Gefühl für die Bewegungen von Kugeln durch Zeit und Raum gewinnt. Sie nehmen ihn sogar in Schutz, als der Vater darauf hinweist, dass er jedenfalls kein Experte für das Alphabet ist.
»Aber das ist doch ganz einfach«, sagt seine Frau amüsiert, als sie die Verwirrung ihres Mannes bemerkt. »Er ist so beschaffen, dass man ihm helfen will.«
Politik, IV
Eines Abends ruft die Mutter aus der oberen Etage. Das Licht draußen ist spröde, aber verlässlich, es wird Frühling. Der Vater sitzt mit dem Kellergriechen in der Küche. Als sie die Treppe hinaufgekommen sind, packt der Landsmann den jüngeren der beiden Jungen, die im Flur Hockey spielen. Aus der Bibliothek dringt der Ton des Fernsehapparats. Unmittelbar darauf sehen sie den Nachrichtensprecher, der lediglich den Kopf bewegt, als er auf seine Blätter und in die Kamera blickt, auf die Blätter und in die Kamera. Die Stimme ist neutral, sein Blick hinter der schwarzen Bakelitbrille unergründlich. Während des Berichts über die Ereignisse der vorherigen Nacht wechseln sich Aufnahmen von gepanzerten Fahrzeugen mit schwankenden Antennen im Stadtverkehr ab mit Nachrichtenbildern von verbissen lächelnden Obristen und einem abgesetzten Staatsoberhaupt mit feucht gekämmten Haaren. Der Sprecher erklärt, dass Konstantin II. soeben die neue Führung des Landes vereidigt hat. »Sollte dies zutreffen, haben wir es mit einer gesetzmäßigen Regierung zu tun.«
Die Mutter zieht ihre Beine so an, dass der Vater sich auf die Couch sinken lassen kann. Sie flüstert seinen Namen, aber er hört sie nicht. Es ist, als füllten sich seine Adern in diesem Moment mit kalter Kohlensäure, der Körper mit Blei. Als er nicht antwortet, obwohl sie seinen Namen wiederholt, legt sie die Hand auf seinen Arm. Erst nach der Hälfte des nächsten Berichts steht er auf. Hört sie jedoch immer noch nicht. Stattdessen verflucht er jenen fernen Tag viele Jahre zuvor, an dem mit ruhigen, systematischen Zügen ein Hemd an einem Fahnenmast gehisst wurde. Auf dem Weg nach unten, zum Telefon im Flur, murmelt er dem Landsmann in der Tür zu: »Das ist der schwärzeste Freitag in der Geschichte des Monats April.«
Eine neue These über ausländische
Weitere Kostenlose Bücher