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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Väter

    III. Ein ausländischer Vater, der erlebt, wie das Militär die Macht in seinem Heimatland ergreift, versucht über Telefonleitungen durchzukommen, die mal nicht funktionieren, mal besetzt zu sein scheinen. Er schickt Artikel an Zeitungen. Er unterschreibt Protestlisten, engagiert sich im Freundschaftsverein, hält Reden bei Versammlungen. Er übersetzt Flugblätter in die Sprache des neuen Landes, trifft sich mit Gleichgesinnten an den Universitäten in Lund und Kopenhagen, verfolgt die Fernsehnachrichten. Er reist sogar in die Hauptstadt, um dort um eine Audienz beim König zu ersuchen. Ein ausländischer Vater, der Zeuge wird, wie das Militär sein Heimatland übernimmt, tut im Grunde alles, was in seiner Macht steht. Aber diese Macht ist eine Ohnmacht. Deshalb besteht das Wichtigste, was ein ausländischer Vater tun kann, darin, die Hilflosigkeit als einen Freund zu betrachten. Sonst lernt er nie, mit sich selbst als ausländischem Vater zu leben.

Die Chronologie des Aufbruchs

    Der Vater, der begreift, dass das Militär seine Hoffnungen, gegen einen dickeren Umschlag als üblich in sein Heimatland zurückkehren zu können, zunichtegemacht hat, bekommt viel Stoff zum Nachdenken. So erkennt er, dass die entscheidenden Augenblicke in seinem Leben einen gemeinsamen Nenner haben: den Aufbruch. Er ahnt, dass er diese Chronologie möglicherweise eines Tages wird erklären müssen. Und nimmt deshalb ein Blatt Papier, auf das er in absteigender Reihenfolge sechs Jahreszahlen schreibt: das laufende Jahr 1967, dann 1964, 1960, 1959, 1954 und 1951. Nach einem gewissen Zögern fügt er eine siebte hinzu, unter der er zwei dicke Striche zieht: 1947.
    Zwischen der obersten und der untersten Ziffer liegt das Leben des Vaters als Erwachsener. In den Jahren von der ersten bis zur letzten hat er selbst über sein Schicksal bestimmt, obgleich er niemals hätte vorhersehen können, was geschehen würde, als er an einem Herbsttag in der Vergangenheit in Athen aus dem Zug stieg. Als er die Jahreszahlen betrachtet, kommt ihm der Gedanke, dass sich jede von ihnen auf eine frühere gründet, was ihn an eine Leiter erinnert. Jeder neue Aufbruch beruht also auf einem vorhergegangenen, so wie jede neue Handlung im Leben eine frühere voraussetzt. Indem er sich nicht gegen Veränderungen wehrt, hat er die Kunst des Aufsteigens gelernt. Noch vermag er nicht zu sagen, was auf die oberste Jahreszahl folgen wird. Aber er weiß, dass der 21. April 1967 der schwarze Freitag ist, an dem er endgültig zum Auslandsgriechen geworden ist.
    Einige Jahre zuvor sind sie, der Industriestadt überdrüssig, in der er eine Stelle als Chirurg gefunden hatte, in die Villa Seeblick gezogen. Mit zwei Kindern in einer engen Wohnung hatte er gespürt, dass sich das Dasein um ihn schloss wie Wasser über dem Kopf. 1960 wohnten sie noch in der westschwedischen Hafenstadt, in der das erste Kind geboren wurde. Sie hätten sich durchaus vorstellen können, dort zu bleiben. Aber die Bedingungen waren unsicher und etwas an seiner Rolle als Provinzialarzt nagte an dem frischgebackenen Vater. Vielleicht gehörten Mandelentzündungen und Bauchschmerzen zu einem anderen Repertoire. Erst im Jahr davor hatten sie der Stadt, in der sie geheiratet hatten und er sein Examen bestand, den Rücken gekehrt. Obwohl es sich wie eine Ewigkeit anfühlt, hat er das Land, in dem er seine Frau kennenlernte, wiederum nur ein paar Jahre zuvor verlassen. Eigentlich wollte er in Schweden nur den Sommer über etwas Geld verdienen, um sein weiteres Studium finanzieren zu können, das im Oktober weitergehen sollte. Bei seiner Ankunft in der schwedischen Hauptstadt hustete er jedoch wieder Blut und benötigte medizinische Hilfe. Als er neun Monate später entlassen wurde, wusste er, was das neue Land zu bieten hatte, und wollte nicht zurückreisen. Und in sein Heimatland konnte er wegen eines Hemds nicht fahren.
    Als der Vater die Liste der Jahreszahlen herabsteigt, stellt er fest, dass er immer einen Schritt nach dem anderen gemacht hat und aus Malmö, Göteborg, Lund, Stockholm, Wien und Athen aufgebrochen ist. Als er die letzte Zahl erreicht, die eigentlich die erste ist, wird er jedoch unsicher. Es ist der schwierigste Schritt in seinem Leben. 1947 stand der Bürgerkrieg vor der Tür, und der Aufbruch aus seinem Heimatdorf geschah nicht freiwillig. Aber wie kann er erklären, warum er Schule und Eltern verlassen musste, ohne gleichzeitig zuzugeben, dass es Umstände gibt, über die ein

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