Die halbe Sonne
Mensch nicht selber bestimmt? Oder dass es zwanzig Jahre dauern kann, bis er erkennt, sogar wenn er sein Schicksal selbst in die Hand nimmt, steht die Leiter, die er himmelwärts aufgestellt hat, auf dem unsicheren Grund der Schatten?
Skizzen zu einem Menschen
Als die Mutter den Zorn und die Ohnmacht ihres Mannes erlebt, glaubt sie den Jungen auf den alten Fotos zu sehen. Sie ist ihm nie begegnet, weiß aber, dass es in dem Erwachsenen noch einen Fünf-, Vierzehn- und Siebzehnjährigen gibt. Die früheren Ausgaben bewegen sich in seinem Inneren wie andere Versionen des Menschen, den sie liebt. Sie beschließt, diese als Skizzen zu dem späteren Menschen zu sehen. Da ist die Kohlezeichnung zu einem Jungen, fünf oder sechs Jahre alt, der singt, um sich nicht fürchten zu müssen, wenn er in den Hügeln oberhalb des Elternhauses die Ziegen hütet. Da ist derselbe Junge, der ein paar Jahre später läuft, um nicht zu spät zur Schule zu kommen. Sie kann seine klatschenden Fußsohlen hören, wenn er durch den Korridor rennt, und sich den Straßenstaub vorstellen, der sich zwischen seinen Zehen festgesetzt hat. Da ist der Zwölfjährige, nicht mehr mit Kohlestift gezeichnet, sondern aus fließenden Wasserfarben bestehend. Obwohl sich seine Art, die Augen konzentriert zu Schlitzen zu verengen, niemals ändern wird, ist er noch im Werden begriffen. In diesem Moment hustet er im Schlaf, während ihn sein Bruder tritt, damit er Ruhe gibt. Da ist der Vierzehnjährige mit so feinem Flaum, dass die Oberlippe bepudert aussieht. Die Mutter stellt sich vor, dass seine Wangen noch so glatt sind wie ein Milchbrötchen und sein Hemd nach Meer und Fischschuppen riecht. Da ist der Vierzehneinhalbjährige – ein Aquarell –, der mit einem Besenstiel als Rückgrat stolz und geheimnisvoll durchs Dorf geht, weil er nun weiß, wie andere Lippen schmecken. Wenn sie wählen dürfte, würde sie seiner Haut den sanften Ton von Olivenöl geben. Da ist der Fünfzehn-, Sechzehn- und Siebzehnjährige. Der Fünfzehnjährige steckt voller Lachen und Schülerfleiß, trägt aber auch eine unterdrückte Glut in sich, die ihn hundertmal interessanter macht als andere Jungen. Der Sechzehnjährige ist ein diesiger Fleck, wie die Schiefertafel, wenn mit der Handkante darüber gewischt wurde. Der Siebzehnjährige ist schwarzhaarig und ernst, und sie weiß, dass er von nun an nur in Ölfarben gemalt werden kann.
Als die Ehefrau den Zorn und die Ohnmacht ihres Mannes erlebt, sieht sie diese unbekannten Versionen von ihm. Und er vertieft sich einwärts, in einem Korridor perspektivischer Verkleinerung, als trüge der Körper seine eigene Unendlichkeit in sich.
Festgezurrte Gewichte
An den letzten Apriltagen ist der Vater wie aufgestaut. Seine Frau weiß, dass es dumpfe Kräfte gibt, die in ihm ruhen wie festgezurrte Gewichte, Kräfte, die sich ihrer Kontrolle entziehen, und sie ahnt, dass sie es bereuen könnte, falls sie diese herausfordern sollte. Das sind nicht die Kräfte, die sie viele Jahre zuvor nach Schweden gelockt haben. Das ist nicht die starke mineralische Lust, die von den Worten ihres Mannes geweckt wurde, als sie die Umschläge mit dem blaugelben Rand aufschlitzte und seine Beschreibungen las, bei denen sie sich vorzustellen versuchte, wie er in dem Krankensaal im Sanatorium lag. Das ist nicht der Eifer, der sie den Koffer packen ließ, sobald sie aus den Händen des Rektors ihr Diplom entgegengenommen hatte, und es mit einer Eile, über die sie nur lachen konnte, einfach unterließ, die letzten Sachen einzupacken, die ihr die Mutter herauslegte, denn sie hatte ja keine Zeit, es galt doch, rechtzeitig zum Bahnhof zu kommen, obwohl es noch mehr als drei Stunden bis zur Abfahrt des Zugs waren. Das sind Kräfte, die sich ihrer Kontrolle entziehen, aber sie hat gelernt, um diese Kräfte herum ein Leben aufzubauen. Sie fragt sich, ob jemand, der seine Freiheit zu rücksichtslos verteidigt, nicht Gefahr läuft, sie zu verlieren.
Wenn sie es recht bedenkt, kann sie die dumpfen Kräfte in ihrem Mann bis zu ihren ersten Monaten in dem neuen Land zurückverfolgen. Sie waren da, als er sich ein Fahrrad lieh und zum Meer hinausfuhr, wo einmal, hatte er gehört, Rilke gewohnt hatte. Weder die Papiere für die Trauung, die beschafft werden mussten, noch die Laken, die sie kaufen wollten, waren so wichtig wie die Lyrik, die er in den Dünen sitzend schrieb, umgeben von grauem Wind und zerzaustem Strandhafer. Sie waren da, als er ihr am Hochzeitstag
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