Die Hallen der Unendlichkeit (German Edition)
Verschweigen war ich noch nie sehr gut.“ Der Nachfahr von Sir Francis Drake schien sich einen Ruck zu geben. „Ich möchte tatsächlich Hallgard kennen lernen, denn ich hoffe, dass sie mich an ihrem unendlichen Wissen über die Hallen teilhaben lässt. Für einen Seemann ist so etwas der größte Schatz, den er sich vorstellen kann. Das Problem dabei ist folgendes: Fast alle Hallen haben verschiedene Eingänge, die einen haben mehr, die andern weniger. Vielleicht habt ihr das auch schon festgestellt.“
Alle beschränkten sich aufs Zuhören. Hans gab mit einem Nicken zu verstehen, dass Jonathan fortfahren möge.
„Hallgards Halle der zerbrochenen Träume hat eine Besonderheit: Der Reisende berichtet, dass sie unzählig viele Ausgänge hat, aber man kann sie nur durch eine einzige andere Halle betreten. Und das ist die Halle des unermesslichen Reichtums und des immerwährenden Glücks.“
Nun schwieg auch Jonathan. Er ließ nochmals seinen Blick über die Kontrollinstrumente gleiten, dann sah er seine Gäste gespannt an. Von fern war das Rumpeln und Poltern der Antriebsmaschine zu hören, ansonsten glitt die Unterseegaleere ruhig durch die Meeresfluten.
„Die Halle des unermesslichen Reichtums und des immerwährenden Glücks“, meinte Mike schließlich. „Na und? Hört sich doch gar nicht so schlimm an!“
Lars widersprach sofort. „Ich weiß nicht so recht. Unermesslicher Reichtum! Das klingt wie maßloser Reichtum, und das Wort maßlos bedeutet selten etwas Gutes. Und immerwährendes Glück! Soll´s das wirklich geben? Für mich hört sich das nach irreführender Übertreibung an.“
Nun fand auch Salvatore die Sprache wieder. „Ich bin nur ein einfacher Koch, der in seinem Leben außer Küchenarbeit nicht viel gelernt hat. Aber eines ist auch mir klar geworden, nämlich, dass es gute Tage und auch schlechte Tage gibt. Für keinen Menschen gibt es immerwährendes Glück. Daher hört sich das für mich nicht nach Übertreibung an, sondern nach Betrug.“
Mit einem Lächeln zwinkerte Hans Salvatore zu. „Gut gesprochen, alter Junge!“
Nun fuhr Jonathan fort. „Nach dem, was der Reisende geschrieben hat, herrscht in dieser Halle absolutes Chaos, das von Dämonen und Geistern verursacht wird. Man kann dort weder seinen Augen noch seinen Ohren trauen. Jeder hat Wünsche und Träume, und diese Halle hält einem auf tückische Art und Weise einen Spiegel vor. Es scheint, als würden die größten und geheimsten Sehnsüchte erfüllt. Aber das sind alles nur Trugbilder, hinter denen das Grauen lauert. Wer den Versuchungen und dem scheinbaren Glück der Hallen erliegt, verliert den Verstand und wird ein Sklave seiner eigenen Wahnvorstellungen.“ Jonathan verstummte für ein paar Sekunden. „Danach betritt man Hallgards Halle der zerbrochenen Träume. Und dort findet man, wenn man sich die nötige Zeit lässt, die Weisheit, die Ruhe und die Einsicht, die zur Zufriedenheit führt. Die einem die Charakterstärke gibt, die guten Zeiten zu genießen und die schlechten durchzustehen. Und man findet dort den Weg in jede beliebige Halle.“
Pietrino sah mit großen Augen von einem zum anderen. Es war offensichtlich, dass er von dem, was gesprochen wurde, nichts verstand. Lars und Mike hingegen glaubten zu ahnen, welcher Sinn sich hinter den Worten verbarg.
„Du beginnst für mich endlich glaubwürdig zu klingen“, sagte Hans offen. „Aber was du gesagt hast, erklärt immer noch nicht, weshalb du bisher nicht den Weg zu Hallgard beschritten hast. Immer vorausgesetzt, dass Hallgard und der Weg zu ihr tatsächlich existieren, wovon ich noch nicht überzeugt bin.“
Jonathan zog eine Grimasse. „Ganz einfach: Der Reisende bezeichnet sich selbst als eine charakterstarke Persönlichkeit. Er habe es ganz allein fertig gebracht, den Versuchungen und Verlockungen zu widerstehen, die in der Halle des maßlosen Reichtums und des immerwährenden Glücks lauern. Anderen empfiehlt er, möglichst als Gruppe zu reisen. Die Gemeinschaft soll dem einzelnen Kraft und Stärke geben. Und die stärkste Gemeinschaft würde immer aus sieben Mitgliedern bestehen, da diese Zahl einen gewissen Schutz vor den Dämonen biete. Man muss allein oder zu siebt sein, sonst kommt man nicht durch.“
Nun sah Pietrino den Seemann mit großen Augen an. „Lars und Mike sagen doch, dass du von einem großen Mann abstammst. Und da brauchst du eine Gemeinschaft, die dir Kraft gibt?“
Mit deutlicher Selbstkritik antwortete Jonathan Drake:
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