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Die Hand von drüben

Die Hand von drüben

Titel: Die Hand von drüben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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lagen. Sie trieben auf den Strudel zu, sie versanken darin, ertranken in der Leidenschaft, einander berauschend, nur noch an die körperliche Vereinigung denkend, die sich nicht mehr länger aufschieben ließ. Ein paarmal lösten sie sich aus der Umarmung und blickten einander an, erstaunt über die Tiefe und Macht der Anziehung, die sie in ihrer Gewalt hatte. Sie unterbrachen ihre Liebkosungen, um zu sehen, ob es wahr war, was sie bei dieser ersten Umarmung erlebt hatten, und umschlangen sich dann nur noch leidenschaftlicher. Die Instrumente ihrer Körper waren auf einen noch höheren Ton gestimmt durch diese leidenschaftliche, wilde, zarte, begehrende, aggressive und hingebende Vereinigung, die ihnen Atem und Sprache raubte.
    Das Taxi hatte schon mehrere Sekunden vor dem Laden in der Cedar Street gehalten, ehe sie merkten, daß sie an ihrem Ziel angelangt waren, und sie rissen sich voneinander los und blickten einander wieder mit diesem Erstaunen an, das nicht einen Augenblick von ihnen gewichen war, in das sich jetzt aber Ungeduld und Gier mischten. Sie sprachen kein Wort. Hero reichte dem Fahrer eine zerknitterte Fünf-Dollar-Note und machte ihm ein Zeichen abzufahren. Tina nahm den Schlüssel zu dem Laden aus ihrer Handtasche und steckte ihn in das Schlüsselloch. Ihre Hand zitterte. Sie gingen hinein, und sie ging durch den abgeteilten Raum und dann die Treppe hinauf voraus, nachdem sie unten das Licht oben angeknipst hatte.
    Sie sagten noch immer kein Wort, bewegten sich wie in einem Traum.
    Sie betrat ihr Schlafzimmer, zog ihn hinter sich her, und das Schweigen zwischen ihnen machte die Spannung so stark, daß sie kaum noch zu ertragen war. Die zarte, leise Botschaft des blauen Nachtgewandes auf der frischen weißen Steppdecke wurde jetzt zu einem lauten Ruf. Tina warf ihre Jacke auf den Stuhl, drehte sich um, blickte Hero an, und die schönen Augen, in die er hinuntersah, waren trübe und feucht. Sie hatte den Mund verlangend halb geöffnet.
    Alexander Hero sprach die ersten Worte, seit sie das Nachtlokal verlassen hatten, aber mit einer Stimme, in der er kaum seine eigene erkannte, einer heiseren und fast erstickten Stimme. «Dein Haar», sagte er und griff danach. Aber sie kam ihm zuvor und tat das, was er begehrte, löste mit einer schnellen Bewegung den Knoten, schüttelte den Kopf, und wie er es vorausgesehen hatte, fiel das Haar wie eine Kaskade über ihr Gesicht und ihre Schultern.
    Es war nach fünf Uhr, kurz vor Morgengrauen, als Tina Cryder Hero aus dem Laden herausließ und sie sich mit einem letzten Kuß voneinander trennten, der sanft und zärtlich begann, aber dann von neuem die Leidenschaft zu entfachen drohte. Doch Tina machte sich von Hero los und flüsterte: «Nein. Vater wacht immer früh auf.»
    Aus Paul Cryders Schlafzimmer war kein Laut gedrungen. Ob er geschlafen, als sie zurückkehrten, oder ob er beschlossen hatte, das zu ignorieren, was er vielleicht sonst geargwöhnt hätte, würde man nie erfahren.
    «Wann werde ich dich wiedersehen?» fragte Hero.
    Tina wußte nicht, wie sie ihm ein Wiedersehen abschlagen sollte, denn sie war noch immer ganz in ihrer Liebe versunken, und das Erlebte hallte noch in ihr nach. «Ich weiß es nicht», flüsterte sie. «Ruf mich an.»
    «Ich möchte dich noch einmal küssen», sagte Hero.
    «Nein. Jetzt ist es genug.»
    Dennoch tat sie es, stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang die Arme um seinen Hals und preßte ihren Körper an seinen. Als sie sich schließlich mühsam voneinander lösten, öffnete sie die Tür und warf ihn geradezu hinaus. Er wollte noch bleiben und noch etwas sagen, obwohl er nicht wußte, was, aber da schloß sich die Tür, und im Laden ging das Licht aus, denn es war draußen nicht mehr dunkel.
    Hero ging die wenigen Schritte bis zum Broadway, fand dort ein Taxi, das schon früh unterwegs war, und ließ sich zu seinem Hotel fahren, und als er sich im Fond des Wagens zurücklehnte und auf das Kreischen der Räder horchte, während der Wagen durch die leere Stadt fuhr, zwang er sich mit seiner ganzen Willenskraft, an nichts anderes zu denken als an das, was er gerade erlebt hatte. Es war, als hätte er sich innerlich einen Panzer angelegt, durch den das Flüstern des Gewissens, der Erinnerungen, der Ängste und der Vernunft nicht hindurchdringen konnte.
    Und vor allem wollte er in diesem Augenblick nicht der Tatsache ins Auge sehen, daß Ruth Lesley und Tina Cryder wahrscheinlich ein und dieselbe Person waren.

Vierzehntes

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