Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
nützlicher, sich auf einfachere Fragen zu konzentrieren. Zum Beispiel …«
Aber Mellery hörte ihm gar nicht zu. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was hinter sechshundertachtundfünfzig stecken könnte. Trotzdem muss was dahinter stecken. Und was es auch ist, jemand anders weiß es. Jemand anders weiß, die Zahl ist so bedeutsam für mich, dass sie mir als Erste einfällt. Das will mir einfach nicht in den Kopf. Es ist ein Alptraum!«
Gurney wartete stumm darauf, dass Mellerys Panik wieder abflaute.
»Die Anspielungen aufs Trinken zeigen, dass es jemand ist, der mich in meinen schlechten Zeiten kannte. Wenn er einen Groll gegen mich hegt - und es hört sich ganz so an -, dann tut er das schon ziemlich lange. Vielleicht ist es jemand, der mich aus den Augen verloren hat und keine Ahnung hatte, wo ich bin, bis er eins meiner Bücher entdeckte, mein Bild gesehen hat, was über mich las und beschlossen hat … ja, was hat er beschlossen? Ich weiß ja nicht mal, worum es in diesen Briefen geht.«
Gurney schwieg weiter.
»Hast du eine Vorstellung davon, wie es ist, wenn man sich an hundert oder sogar zweihundert Nächte seines Lebens
nicht mehr erinnern kann?« Mellery schüttelte den Kopf, als würde er sich nachträglich über seinen Leichtsinn wundern. »Über diese Nächte weiß ich eigentlich nur, dass ich im Rausch zu allem fähig war. Das ist das Gefährliche am Alkohol - wenn man so viel trinkt wie ich damals, verliert man jede Angst vor den Konsequenzen. Die Wahrnehmung ist verschoben, alle Hemmungen verschwinden, das Gedächtnis versagt, und man folgt nur noch seinen Trieben.« Er verstummte.
»Was könntest du bei so einem Blackout getan haben?«
Mellery starrte ihn an. »Alles! Verdammt, das ist es ja: alles! «
Für Gurney sah er aus wie ein Mann, der gerade entdeckt hat, dass das tropische Paradies seiner Träume, in das er jeden Cent gesteckt hat, mit Skorpionen verseucht ist.
»Und was erwartest du jetzt von mir?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich auf eine Deduktion à la Sherlock Holmes gehofft. Fall gelöst, Briefschreiber entlarvt und unschädlich gemacht.«
»Du bist viel eher als ich in der Lage zu erraten, worum es hier geht.«
Mellery schüttelte den Kopf. Dann blitzte eine fragile Hoffnung in seinen Augen auf. »Könnte es vielleicht ein Scherz sein?«
»Wenn ja, dann ein besonders grausamer«, erwiderte Gurney. »Was fällt dir sonst noch ein?«
»Erpressung? Der Verfasser weiß etwas Schlimmes, an das ich mich nicht erinnern kann? Und die 289,87 Dollar sind bloß die erste Rate?«
Gurney nickte unverbindlich. »Irgendwelche anderen Möglichkeiten?«
»Rache? Für etwas Schreckliches, das ich getan habe,
nur dass der Betreffende kein Geld will, sondern …« Er verstummte kläglich.
»Und dir fällt keine konkrete Tat ein, die so eine Reaktion erklären könnte?«
»Nein, das sage ich doch. Ich kann mich an nichts erinnern!«
»Na schön, ich glaube dir. Doch unter den Umständen lohnt es sich vielleicht, sich ein paar einfache Fragen zu stellen. Schreib einfach mit, nimm sie mit nach Hause und beschäftige dich vierundzwanzig Stunden damit. Mal sehen, was dabei rauskommt.«
Mellery öffnete die elegante Aktentasche, um ein Notizbüchlein aus Leder und einen Montblanc-Füller zu zücken.
»Ich möchte, dass du mehrere getrennte Listen anlegst, okay? Erste Liste: mögliche geschäftliche oder berufliche Feinde - Leute, mit denen du irgendwann eine ernste Auseinandersetzung um Geld, Verträge, Zusagen, Stellung oder Ruf hattest. Zweite Liste: ungelöste persönliche Konflikte - Exgeliebte, Partner in Angelegenheiten, die schlecht geendet haben. Dritte Liste: Personen, von denen eine unmittelbare Gefahr ausgeht - Leute, die Anschuldigungen gegen dich erhoben oder dich bedroht haben. Vierte Liste: labile Personen - irgendwie aus dem Gleichgewicht geratene oder gestörte Menschen, mit denen du zu tun hattest. Fünfte Liste: alle aus deiner Vergangenheit, denen du in jüngster Zeit begegnet bist, unabhängig davon, wie harmlos und zufällig dir die Begegnung auch erschienen ist. Sechste Liste: alle Verbindungen zu Leuten, die in oder bei Wycherly leben, denn dort ist das Postfach von X. Arybdis, und dort wurden alle Umschläge abgestempelt.«
Während er die Fragen diktierte, schüttelte Mellery
wiederholt den Kopf, wie um auszudrücken, dass er sich unmöglich an irgendwelche relevanten Namen erinnern konnte.
»Ich weiß, das kommt dir schwierig vor.« Gurney legte
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