Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
auch keine Lust, darüber zu reden, zu streiten oder sich deswegen ein schlechtes Gewissen zu machen. Er wechselte das Thema.
»Wie war dein Eindruck von Mark Mellery?«
Sie antwortete, ohne von den Früchten aufzublicken, die sie auf die Arbeitsplatte legte, und ohne lang über die Frage nachzudenken.
»Völlig von sich eingenommen und panisch. Ein Egomane mit Minderwertigkeitskomplex. Hat Angst, dass ihn der schwarze Mann holt. Onkel Dave soll ihn beschützen. Übrigens hab ich nicht absichtlich gelauscht. Seine Stimme hat eine große Reichweite. Ist bestimmt ein hervorragender Redner.« Bei ihr klang das wie ein sehr zweifelhafter Vorzug.
»Was hältst du von der Sache mit der Zahl?«
»Ah.« Sie schlug einen affektiert dramatischen Ton an. » Der Stalker, der Gedanken lesen konnte .«
Er schluckte seine Irritation hinunter. »Kannst du dir vorstellen, wie das möglich ist - woher der Verfasser wusste, für welche Zahl sich Mellery entscheiden wird?«
»Nein.«
»Aber besonders verblüfft bist du nicht.«
»Im Gegensatz zu dir.« Wieder galt ihr Augenmerk den Äpfeln. An ihrem Mundwinkel zupfte das leise ironische
Lächeln, das in letzter Zeit ziemlich oft zu beobachten war.
»Du musst doch zugeben, dass das ein echtes Rätsel ist«, beharrte er.
»Wahrscheinlich.«
Mit der Missgestimmtheit eines Menschen, der nicht begreift, warum er nicht verstanden wird, wiederholte er die wesentlichen Fakten. »Jemand gibt dir einen verschlossenen Umschlag und sagt dir, du sollst dir eine Zahl denken. Du denkst an sechshundertachtundfünfzig. Auf seine Aufforderung hin schaust du in den Umschlag, und auf dem Zettel steht sechshundertachtundfünfzig.«
Offenkundig war Madeleine immer noch nicht besonders beeindruckt.
»Das ist doch erstaunlich«, fuhr er fort. »Eigentlich völlig unmöglich. Trotzdem ist es passiert. Ich würde gern rausfinden, wie.«
»Und das wirst du sicher auch.« Sie seufzte leise.
Er spähte durch die Terrassentür, vorbei an den im ersten Frost verwelkten Paprika- und Tomatenpflanzen. (Wann war das geschehen? Er konnte sich nicht erinnern. Irgendwie schaffte er es nicht mehr, sich auf die Zeit zu konzentrieren.) Sein Blick fiel auf die rote Scheune am Ende der Wiese. Hinter der Ecke ragte der alte McIntosh-Apfelbaum auf, dessen Früchte hier und da durch das dichte Laub schimmerten wie impressionistisch hingetupfte Farbkleckse. In dieses friedliche Bild drängte sich das nagende Gefühl einer vergessenen Pflicht. Was war es? Natürlich! Vor einer Woche hatte er versprochen, die Schiebeleiter aus der Scheune zu holen, um die hochhängenden Äpfel zu pflücken, die Madeleine nicht erreichen konnte. Eigentlich nur eine Kleinigkeit. Ein Kinderspiel. Nicht mehr als eine halbe Stunde.
Als er sich gerade mit besten Absichten aus dem Stuhl erhob, läutete das Telefon. Madeleine nahm den Anruf entgegen, aber nicht etwa, weil sie gleich daneben stand. Der Grund war ein anderer. Sie ging meistens hin, auch wenn sie weiter weg war. Das hatte weniger mit Logistik zu tun als mit dem Wunsch nach Kontakt mit anderen Menschen. Für Madeleine waren Menschen im Allgemeinen ein Plus, etwas positiv Belebendes (mit Ausnahmen wie der selbstsüchtigen Sonya Reynolds). Für Gurney waren Menschen im Allgemeinen ein Minus, etwas Kräftezehrendes (mit Ausnahmen wie der beflügelnden Sonya Reynolds).
»Hallo?« Wie immer meldete sich Madeleine auf eine fröhlich erwartungsvolle Weise, die dem Anrufer uneingeschränktes Interesse für sein Anliegen signalisierte. Gleich darauf schwand der Enthusiasmus aus ihrem Tonfall.
»Ja, er ist da. Einen Moment.« Sie winkte Gurney mit dem Hörer zu, legte ihn auf den Tisch und verließ das Zimmer.
Es war Mark Mellery, dessen Erregtheitspegel noch weiter gestiegen war.
»Davey, Gott sei Dank bist du da. Bin gerade nach Hause gekommen. Ich hab schon wieder so einen verdammten Brief gekriegt.«
»Mit der heutigen Post?«
Die Antwort lautete ja, was Gurney auch nicht anders erwartet hatte. Trotzdem war die Frage nicht sinnlos. Im Lauf der Jahre hatte er bei der Befragung zahlloser hysterischer Leute - an Tatorten, in Notaufnahmen, in den unterschiedlichsten chaotischen Situationen - die Erfahrung gemacht, dass man sie am leichtesten beruhigen konnte, wenn man mit einfachen Fragen begann, die sie nur mit ja zu beantworten brauchten.
»Sieht es wie dieselbe Handschrift aus?«
»Ja.«
»Auch wieder rote Tinte?«
»Ja, alles genauso, nur das Gedicht ist neu. Soll ich es
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